■ Was bei der Metall-Tarifrunde auf dem Spiel steht: Ein Stück Zivilgesellschaft
Es gehört wahrscheinlich zu den Eigenheiten der deutschen Gesellschaft, daß sich in Zeiten der Krise nicht die Arbeiter radikalisieren, sondern die Unternehmer. Die gegenwärtige Auseinandersetzung in der Metallindustrie, so unsicher ihr weiterer Verlauf sein mag, war von Anfang an durch eine Konfrontationsstrategie des Unternehmerverbandes Gesamtmetall gekennzeichnet, die nicht nur auf radikale Lohnkostensenkung zielte, sondern auf die Bindungskraft bestehender Tarifverträge. Und die Alternative zu allgemeinverbindlichen tariflichen Regelungen wird derzeit in verschiedenen Unternehmen vorexerziert: der individuelle Arbeitsvertrag der abhängig Beschäftigten mit dem Arbeitgeber.
Damit ist ein historisch lange und teuer erkämpftes Schutzinstrument für abhängig Beschäftigte gefährdet, das gerade in der Krise dringender als je gebraucht wird. Tarifverträge setzen Normen und Grenzen, auf die sich der strukturell unterlegene einzelne Beschäftigte gegenüber seinem Arbeitgeber stützen kann.
Historisch haben sie – wie auch andere Schutzrechte – den Unternehmern eine Zivilisierung ihres Umgangs mit den abhängig Beschäftigten abgenötigt, die in Deutschland keineswegs selbstverständlich war und es in vielen Weltregionen bis heute nicht ist. Schon seit einigen Jahren, zuletzt in der Auseinandersetzung um die Geltung der Angleichungstarifverträge in Ostdeutschland, streben einige Arbeitgeberverbände mit Gesamtmetall an der Spitze aus diesen vertraglichen Einbindungen heraus.
Bis jetzt hatten sie damit keinen Erfolg und es ist unwahrscheinlich, daß sie es diesmal schaffen. Schon im letzten Frühjahr hat die IG Metall in Ostdeutschland gezeigt, daß sie sich trotz ungünstigster ökonomischer Rahmenbedingungen offensiv verteidigen kann.
Sie wird das auch in diesem Jahr können, obwohl in vielen Betrieben die Angst unter den Beschäftigten groß ist. Unter dem Druck dieser Verunsicherung in den Betrieben hat die Gewerkschaft erstmals tarifpolitische Konsequenzen aus der Massenarbeitslosigkeit gezogen und die Beschäftigungssicherung in den Mittelpunkt ihrer Forderungen gestellt. Gleichzeitig aber wird sie auch in dieser Tarifrunde den Tarifvertrag als verrechtlichte Institution der „Sozialpartnerschaft“ – also ein Stück zivile Gesellschaft – verteidigen müssen.
Wer hätte gedacht, daß wir derartiges einmal in dieser Zeitung schreiben würden! Martin Kempe
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