Warum lügt Emilia Galotti?

■ Im Deutschen Theater Göttingen ist der Regisseur Peter Hathazy zu entdecken

Eines der schönsten, zugleich eines der schwierigsten Stücke des klassischen Repertoires ist Lessings Emilia Galotti von 1772. Thriller, bürgerliches Trauerspiel, Prunkstück der Aufklärung, gleichzeitig Modellfall der Dialektik der Aufklärung. Hinter dem Politkrimi — dekadent-korrupter Adel bedroht bürgerliche Tugend — öffnet sich ein Abgrund, und wir werfen einen tiefen Blick in die bürgerliche Seele, in der verklemmte Sexualität, Anlage zum Masochismus und religiöse Verblendung Unheil anrichten.

In einer legendären Inszenierung hat Fritz Kortner 1970 die damals umstrittene These riskiert, Emilia sei — natürlich — in den Prinzen verliebt. Damit waren Auslegungskonventionen zertrümmert, die Verhältnisse erschreckend kompliziert. Heute ist das Schnee von gestern, aber hinter Kortners Lesart kann man nicht mehr zurück. Peter Hathazy legt sie seiner Göttinger Inszenierung selbstverständlich zugrunde, darf also gar nicht allzuviel Originalität in Anspruch nehmen; und doch gelingt ihm das Kunststück, die Geschichte so spannend zu erzählen, als sähe man sie zum ersten Mal. In größter Panik kommt Emilia aus der Kirche, wo der Prinz ihr aufgelauert hat, nach Hause, türmt Kisten und Koffer vor die Tür, ganz die verfolgte Unschuld vom Lande. Als sie dann aber der Mutter erzählt, wie brav sie sich benommen hat, strafen Mimik und Körpersprache sie Lügen: die Natur will anders, als es Moral, Konvention, Tugend etc. verlangen. Appiani tritt auf, bleich, verstört, eine gute Partie, aber eher ein Gespenst als ein Mann. Er erlebt an diesem Hochzeitsmorgen einen kurzen Höhenflug der Geistesgegenwart — als er Gelegenheit hat, der verhaßten Hofschranze Marinelli mal ordentlich die Meinung zu sagen. Ein schöner Triumph, den er mit dem Leben bezahlt.

Später wird der Killer Angelos seinen Auftraggeber Marnelli mit Appianis Blut beflecken. Angeekelt steckt Marinelli die besudelte Hand in die Tasche, um sie vor dem Prinzen zu verbergen. Als der sie dann doch bemerkt, zückt er tröstend ein Taschentuch und wischt die hilfreiche Hand ab. Der Prinz weiß alles, und er weiß von nichts. Die Komplizenschaft der beiden ist die alltägliche der Macht, nicht die besondere des Bösen. Marinelli ist kein übler Bursche, er ist bloß ein bißchen feige und hängt zärtlich an seinem Job. Als ihn die „Philosophin“ Orsina aber in einen lästigen Disput verwickelt, tritt seine ganze Phantasielosigkeit zutage. So einer ist aufs Funktionieren gedrillt; für alles andere fehlt es an Energie, an Witz, an Charme.

Orsina ist in diesem Drama die Göttin der Rache, die Initiatorin der Revolte, die nicht stattfindet. Sie drückt dem alten Galotti, diesem Muster an Tugend, nicht nur den Dolch in die Hand, sie animiert ihn im schönsten Sinn des Wortes, legt ihm die Hand auf die Brust, führt mit der andern den Dolch, zeigt ihm, wie er zustoßen soll. Im Vorgefühl der Genugtuung erleben die beiden ein orgiastisches Glücksgefühl. Umsonst, es kommt anders. Galotti will sich in seiner Tochter auskennen. Ist sie die, die sie zu sein hat, ein Muster an Tugend wie er selbst? Oder ist sie etwa ein Luder? Sie ist beides. „Verführung ist die wahre Gewalt“ — der erstaunlichste, der ungeheuerlichste Satz, den je ein deutscher Aufklärer hingeschrieben hat. Wohlweislich hat man ihn lange überlesen. Emilia will verführt werden; und das heißt, sie will sterben. Hathazy läßt den Prinzen nicht nach, sondern vor der Hinschlachtung Emilias auftreten. Er steht fassungslos da und staunt. Emilia klammert sich an ihn, er legt ihr die Hand aufs Geschlecht. Die flüchtigen Berührungen deuten auf eine tiefe Vertrautheit; nichts von der angeblichen Distanz, mit der Emilia den Prinzen behandelt haben soll. Emilia wird nicht nur doppelt mißbraucht, sie hat sich auch in eine doppelte (und tödliche) Komplizenschaft begeben: in eine erotische mit dem Prinzen, in eine mystisch-ideologische mit dem Vater. Der gehorcht ihr blind, macht sie hin.

Am Ende Posen. Galotti hebt anklägerisch die Hand gen Himmel, der da oben werde es schon richten; auch der Prinz ist ganz verzweifelt: Marinelli geht nicht in die Wüste, er muß den Prinzen trösten. Emilia allerdings, die istwirklich tot. Peter Hathazy leitet in Göttingen das Kindertheater. Nebenher arbeitet er für den Abendspielplan. Nach einem hinreißenden Diener zweier Herren und einer packenden Jelena Sergejewna hat er sich mit dieserEmilia als heimlicher Oberspielleiter des Deutschen Theaters etabliert. Analytische Intelligenz, Gespür für Körpersprache, Timing, Struktur: Besser, konziser als Hathazy hat hier lange niemand inszeniert. Respekt.

Martin Krumbholz

Lessing: Emilia Galotti , Regie: Peter Hathazy, Bühne: Günter Hellweg. Mit Eleonore Bircher, Katharina Hochstrasser, Andrea Bettini, Wolf List, Till Sterzenbach. Deutsches Theater Göttingen. Nächste Aufführungen:

1., 14., 15., 26. März.