Warum es falsch ist, die Welt mit deutschem Maß zu messen: Selbstgefällige Demokraten
Zu Hause bei Fremden
von Miguel Szymanski
Es ist unerheblich, ob es in der öffentlichen Debatte um verantwortungsvollen Konsum, Menschenrechte, Gesundheitspolitik, um Tierschutz oder künstlerische Freiheit geht. Egal welches Thema, die Frage von richtig oder falsch wird hier grundsätzlich nach zwei starren Kriterien entschieden: Ort und Zeit. Richtig ist, was heute in Deutschland gemacht wird.
Der Ort ist fest im Denken verankert: „In Deutschland wird Deutsch geredet.“ Mit dem Faktor Zeit dagegen ist es so, als gebe es nur das Jetzt, die Istzeit. Der Höhepunkt der menschlichen Zivilisation ist in Deutschland jetzt und hier. Gestern ist – Ruckzuck-Frühjahrsputz – weggefegt. Morgen, oh Graus, fürchtet der Bundesbürger die Dekadenz. Maß der Moral, des Rechts und der Freiheit ist nur das Jetzt – in Deutschland.
Noch nie war für die Deutschen die Menschheit so weit wie heute und hier. Hier leben die Menschen, die ihre Hunde und Katzen besser behandeln als ihre Nachbarn, im Zug raucht heute niemand mehr, jedes Kind hat ein Tablet, und Kundenbetreuung im Flatrate-Bordell ist steuerlich absetzbar.
Im Nichthier leben die Oligarchen, Faulpelze und Ziegenficker. Und was im Nichtheute passiert ist, in der Vergangenheit, zählt nicht mehr. Wenn ein Anthropologe die Zweige des deutschen Brombeerstrauchs behutsam beiseiteschiebt und die Menschen in diesem Land beobachtet, sieht er chauvinistische Demokraten.
Der chauvinistische Glaube der Deutschen an die Überlegenheit der eigenen Gruppe ist in Verfassung und Marktstärke verankert, die moralische Überlegenheit wird von Kanzel und Kanzleramt gepredigt.
Meine südeuropäische Hälfte sieht das etwas anders. Sie erinnert sich an Zeiten, in denen es in Ordnung war, dass Eltern ihre Kinder verprügelten, Schwulsein strafbar war, Frauen und Männer für gleiche Arbeit ungleich verdienten und Frauen täglich Opfer männlicher Gewalt wurden.
Die vermeintliche zivilisatorische Überlegenheit hat vor fünf Minuten angefangen. Aber sie will moralische Standards setzen, und wer die Welt anders sieht, disqualifiziert sich selbst.
Meine portugiesische Seite hat mir Bescheidenheit gelehrt. Vor einem halben Jahrtausend hatten Portugiesen in Tanegashima als erste Europäer Kontakt mit Japan, staunten über die Hochkultur und führten dort Feuerwaffen ein, in Brasilien fanden sie einheimische Bevölkerungen ohne Kleidung, aber mit erstaunlichen Kenntnissen der Medizinalbotanik, mit der arabischen und jüdischen Kultur lebten Portugiesen jahrhundertelang Tür an Tür. Die Zivilisation hat nicht 1871 angefangen.
Die gesellschaftliche Überlegenheit gegenüber Griechen, Türken oder Arabern, die faul in der Landschaft herumstehen oder Menschen knebeln und steinigen, ist ungefähr so alt wie die Mülltrennung und die Tendenz zur Zweitimmobilie der wohlhabenden deutschen Familien. „Über“ ist nicht zufällig das deutscheste aller deutschen Wörter. Erst fünf Minuten ist es her, dass Bücher verbrannt wurden. Der zivilisatorische Zenit ist eine Illusion, wie im Berlin der 20er Jahre. Niemand weiß, was in fünf Minuten ist und wie dann auf das Jetzt zurückgeschaut wird.
Ich bin sehr dankbar, als Journalist und Autor ungestraft veröffentlichen zu können, und wünsche mir nichts mehr, als meine beiden Töchter in Freiheit und voller Gleichberechtigung aufwachsen zu sehen. Aber dieser zivilisatorische Lauf, dieser ständige Kampf, nicht umzufallen, dieses Laufen in eine unbekannte Richtung hat zur Folge, dass während des Laufens Wertvolles hinter uns bleibt, das andere Kulturen noch haben und pflegen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen