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Archiv-Artikel

Warten auf den Fehler

Wahrscheinlich hat er weit mehr als die 23 Frauen vergewaltigt, die zur Polizei gingen

AUS BOCHUM ANNIKA JOERES

Manchmal fragt sich Ralf Brüggemann, ob es einer von ihnen ist. Einer von der Polizei, der in den vergangenen Jahren mindestens zwölf Frauen vergewaltigt und es 23 Mal versucht hat. „Wir schließen nichts mehr aus“, sagt der 45-jährige Kriminalhauptkommissar. Seit dreizehn Jahren suchen er und seine Kollegin Birgit Dienstbier den Serientäter, verbringen Tage und Nächte in den grünen Hügeln rund um die Ruhr-Uni Bochum. Die wenigen Merkmale, die sie vom Vergewaltiger kennen, träfen auch auf viele Polizisten zu, sagt Brüggemann. Er ist zwischen 25 und 40 Jahre alt, sportlich, dunkelhaarig.

Mehr Details kennt die Polizei nicht: Die Überfälle fanden immer in der Dunkelheit statt, die Frauen konnten sich nur an wenige Äußerlichkeiten erinnern. Die Polizei weiß nicht einmal, ob der Mann noch aktiv ist. Vor wenigen Wochen wurde wieder eine Studentin mit dem Messer bedroht, wenige Meter von Hörsälen und Caféterien der Ruhr-Uni entfernt. Er zerrt sie ins Gebüsch, zwingt sie, ihr Oberteil auszuziehen. Sie kann fliehen, rettet sich ins nahe gelegene Wohnheim. Vielleicht ist es der Serientäter. Die letzte sichere Spur stammt aus dem Jahr 2002, das Sperma der zuletzt bekannt gewordenen Vergewaltigung. Seitdem wurden drei Frauen mit einem Messer überfallen, sie alle konnten fliehen.

Brüggemann hat sich in den vergangenen dreizehn Jahren in den Täter hineinversetzt, versucht, seine Motive zu verstehen. Seine Worte klingen manchmal grob. „Hier an der Uni haben sie natürlich viel Material“, sagt er und zeigt auf die Studentinnen, die über die Brücke zur Universität gehen. Jung und schlank sind die Opfer immer, Haarfarbe und Nationalität spielen offenbar keine Rolle. Wahrscheinlich sind es auch weit mehr als die 23 Frauen, die zur Polizei gingen, vielleicht sind es dreimal, viermal so viele. Viele von ihnen sind eingeschüchtert und wollen das traumatische Erlebnis möglichst bald verdrängen, nicht darüber sprechen.

Auch Birgit Dienstbier denkt seit Jahren über den Täter nach. Die junge Kriminalhauptkommissarin lacht viel. Seit zehn Jahren muss auch sie sich in den Serientäter einfühlen – das ist ihre Hauptaufgabe. „Manchmal wurde ich sein Bild auch in der Nacht nicht los“, sagt sie. Sie fing an, Bekannte und Freunde mit dem Phantombild zu vergleichen, Passanten zu verdächtigen. „Auf Dauer ist das furchtbar“, sagt sie. Sie habe immer wieder erlebt, wie sich das Leben der überfallenen Frauen nach der Tat radikal verändert hat. „Sie verlassen die Uni, die Stadt, manchmal auch ihre Freunde. Sie haben ein lebenslanges Trauma.“ Die Frage kann auch Dienstbier nicht beantworten: Wieso entkommt der Täter immer wieder?

Dabei wurde laut Polizei in der Ruhrgebietsstadt die größte Fahndung der Bundesgeschichte eingeleitet. In der EK Messer, wie die Einsatzkommission etwas reißerisch nach der Tatwaffe benannt wurde, arbeiteten bis zu 24 PolizistInnen. Ein Profiler von Scotland Yard bestimmte anhand der nahe beieinander liegenden Tatorte das mögliche Umfeld des Vergewaltigers. Er solle in der Bochumer Gegend geboren sein, sagte der Profiler. Der Tatort sei niemals zufällig gewählt, es gebe eine Verbindung zwischen Ort und Mensch. Knapp 23.000 Männer wurden überprüft, Mitarbeiter der Uni, Angestellte im nahe gelegenen Einkaufszentrum, der Post. Ohne Ergebnis. Zehntausend Speichelproben von allen Männern bis 40 des Stadtteils wurden genommen, sie alle waren negativ. Dreißig Beamte legten sich über Monate nachts in den Wald, in Container, standen hinter Bäumen. Der Täter blieb fern. „Dabei haben wir weder Geld noch Personal gespart“, beteuert Brüggemann. Der Fall habe absolute Priorität.

Jetzt reiten tagsüber Pferdestaffeln durch das Gelände, kreisen Hubschrauber über der Universität und ihren Wäldern. Nicht zur Fahndung. Es ist eine kleine Show. Die Anwohnerinnen sollen sich wieder sicherer fühlen. Nach der letzten Tat riefen einige aufgeregt bei der Polizei an. Eine Studentin fühlt sich schlecht informiert. Wenn sie zu ihrem Wohnheim will, muss sie ein Wäldchen durchqueren, in dem der Täter schon Opfer fand. Sie kann auch einen Umweg über die Straße nehmen, aber auch dieser ist nicht beleuchtet. Weil es kein Wohngebiet ist, seien Laternen nicht vorgesehen, sagt die Stadt. „Niemand hat mich gewarnt, als Frau in dieses Wohnheim zu ziehen“, sagt die 24-Jährige. Sie möchte ihren Namen nicht nennen. Jetzt müsse sie jeden Abend Begleiter suchen oder versuchen, noch bei Tageslicht nach Hause zu gelangen. „Ich komme nicht von hier und habe von den Taten nichts gewusst,“ sagt sie aufgebracht.

Vor wenigen Jahren hätte sie die Warnungen nicht übersehen können. Da veranstaltete die Polizei Infoabende, zu denen hunderte Studentinnen kamen, die Hörsäle waren voll. Überall hingen die Fahndungsplakate mit sechs ähnlichen Gesichtern. Und heute? „Das neue Fahndungsbild hängt in einigen Schaukästen der Uni“, sagt Brüggemann. Er schaut auf seine Schuhe. Der Polizeibeamte ist routiniert, er erzählt nicht zum ersten Mal die Geschichte der Fahndung. Über Einzelheiten der Fahndung könne er keine Aussagen machen, um den Täter nicht zu warnen. Birgit Dienstbier sagt, dass der Täter für Bochumerinnen noch immer beängstigend sei. „In unseren Selbstverteidigungskursen ist das immer wieder ein Thema“, sagt sie. Trotzdem würde sie Studentinnen nicht raten, die Gegend komplett zu meiden. „Dann gewinnt der Täter viel zu große Macht über ihr Leben.“ Das Wichtigste sei, nachts nicht alleine unterwegs zu sein, sich gegebenenfalls zu wehren. Alle Frauen, die geschrien haben oder weggelaufen sind, seien entkommen. „Aber selbst ich als Polizeibeamtin würde hier nachts nicht alleine rumlaufen“, sagt sie.

Als geradezu höflich beschreiben die beiden Beamten den Täter. „Er ist kein Macho“, sagt Brüggemann sogar. Bislang habe er sein Messer nur zur Einschüchterung benutzt, niemals zugestochen. Er habe mit den Frauen reden wollen, sie sollten sich immer auf eine bestimmte Art und Weise ausziehen, sich auf ihre Kleidungsstücke legen. Anfangs fesselte er sie noch, später fühlte er sich immer sicherer. Wenn die Frau ihm eingeschüchtert genug erschien, hat er das Messer manchmal beiseite gelegt. So kann er seine Macht noch mehr spüren – ein Motiv, das laut Kriminologen bestimmend ist für Sexualstraftäter.

Ein typischer Täter ist der Gesuchte dennoch nicht. Die meisten Vergewaltigungen finden zwischen Personen statt, die sich kennen. Flüchtig von einer Party, aus dem Bekanntenkreis. Oder in der Familie, der Ehe. Deswegen kann die Polizei diese Taten auch zu neunzig Prozent aufklären, zweihundert sind es allein jährlich in Bochum. Dieses Serienverbrechen ist anders, zwischen Täter und Opfer gibt es keine Verbindung. „Wir müssen auf Kommissar Zufall hoffen“, sagt Brüggemann. Darauf, dass der Täter einen Fehler begeht, eindeutige Spuren hinterlässt. Vielleicht ist er dann schon in Rente, sagt er leise. Dienstbier sagt: „Unsere Aufklärung ist möglicherweise von einer neuen Tat abhängig.“ Sie macht eine Pause. „Ein schrecklicher Gedanke.“