: Warten auf Gerechtigkeit
Nicht gegendarstellungsfähig (XX): Jony Eisenbergs juristische Betrachtungen. Heute: Pflichtverteidigung
In Hannover hat man untersucht, was passiert, wenn jedem inhaftierten Beschuldigten vom ersten Tage an ein Verteidiger gestellt wird: Durchschnittlich gibt es ein Urteil statt nach 128 nach nur 84 Tagen, die Dauer der Untersuchungshaft wird um zwei Drittel für die verkürzt, die ohne den Modellversuch unverteidigt geblieben wären. Das erspart häufig den Verlust der Wohnung, der Arbeit, die sozialen Bindungen leiden weniger.
Gleichwohl sind arme Leute regelmäßig ohne Verteidiger, wenn sie in Untersuchungshaft gesperrt werden. Nach drei Wochen haben noch mehr als 20 Prozent der Inhaftierten keinen Anwalt. Sie bleiben so Objekt des Verfahrens, das sie häufig nicht einmal verstehen: keine Akteneinsicht, keine Beratung, für sie spricht niemand mit dem Staatsanwalt oder Richter. Obdachlose, Touristen, Armutsimmigranten, Analphabeten, Psychotiker, Trinker: Sie alle haben schon in Freiheit Schwierigkeiten, sich regelgerecht zu verhalten. Mit den komplizierten Strafverfahrensprozeduren und dem Untersuchungshaftregime sind sie regelmäßig überfordert.
Die Berliner Strafverteidiger diskutierten das Problem am vergangenen Wochenende mit den Justiz-Staatssekretären von Berlin. Ein Vorschlag seitens der Anwaltschaft, jedem Inhaftierten notfalls aus ihren Kreisen auch kostenlos einen Verteidiger zu stellen, ist bereits in der Vergangenheit verworfen worden. Das Berufsrecht verbietet, umsonst zu arbeiten. Allerdings gäbe es auch ohne Änderung des Haft- und Verteidigungsrechts die Möglichkeit, jedem, der mit der sachgerechten eigenen Verteidigung überfordert ist, von Staats wegen einen Pflichtverteidiger beizuordnen. Der kostet circa 500 Euro, die im Falle einer Verkürzung der Untersuchungshaft um nur zwei Tage bereits durch ersparte Haftkosten ausgeglichen sind.
Gleichwohl weigern sich Richter häufig, solche Verteidiger zu bestellen. Da wird dann argumentiert, dass ein 16-jähriger polnischer Sinti, der Analphabet ist und inhaftiert wird wegen eines kleinen Betruges, der kein Wort Deutsch kann und keine Menschenseele hier hat, sich ausreichend selbst verteidigen kann. Oder ein 45-Jähriger, der bereits 81 Mal als Ladendieb ertappt wurde, der als grenzdebil gilt, wird in Serie verknackt, verliert seine Wohnung, wird daher bei einer weiteren Tat als Wohnsitzloser inhaftiert und kann sich – selbstverständlich – ausreichend selbst verteidigen. Später erweist sich, dass der Mann an einer Psychose leidet, kleptoman ist und nie hätte verurteilt werden dürfen, weil er schuldunfähig ist. Hätte er sofort einen Verteidiger bestellt bekommen, wäre ihm ein langer Leidensweg erspart geblieben.
Wenn einer etwas tut, was ihn in Untersuchungshaft bringt, dann braucht er sofort einen Verteidiger. Und wenn er sich den nicht leisten kann, dann muss der Staat, der ihn einsperrt, ihm diesen stellen. Das dient den Fiskalinteressen des Staates, und es fördert die Durchsetzung der materiellen Gerechtigkeit für Armutshäftlinge. JONY EISENBERG
Unser Autor ist Rechtanwalt in Berlin