Wann wurde Ernst Thälmann ermordet?

■ Eine Erwiderung auf H. D. Heilmann

Von Heinrich Hannover

Der Frage, wann Ernst Thälmann ermordet wurde, widmete die taz vom 9.5.1988 einen ganzseitigen Artikel. Der Autor, H. D. Heilmann, vertritt die These, Thälmann sei nicht in der Nacht vom 17. zum 18., sondern erst am 28.8.1944 umgebracht worden. „Damit könnte der Prozeß gegen den KZ–Wächter Otto, gegen den z. Zt. in Düsseldorf verhandelt wird, platzen“, hieß es auf Seite 2 der überregionalen Ausgabe der taz. Der als Historiker vorgestellte Autor meint denn auch, seine Argumentation werde „von dem Nebenkläger Hannover sicherlich als Dolchstoß empfunden und als Verrat am Antifaschismus hingestellt werden“. Das wäre zuviel der Ehre für einen so schlampig recherchierten Artikel. Die Frage, ob Ernst Thälmann in der Nacht vom 17. zum 18.8.1944 oder erst zehn Tage später ermordet worden ist, wird von Herrn Heilmann zu Unrecht als prozeßentscheidend hingestellt. Sie konnte bedeutsam sein, solange noch mit der Möglichkeit gerechnet werden mußte, das Gericht werde der von den Nazis verbreiteten Propagandalüge folgen, daß Thälmann ebenso wie Breitscheid ein Opfer des Luftangriffs auf das KZ Buchenwald geworden sei, der zwar nicht am 28., aber am 24.8.1944 stattgefunden hatte. Aber diese Frage ist - um es mal juristisch zu formulieren - rechtskräftig entschieden. Selbst der Bundesgerichtshof (BGH) konnte insoweit keinen Fehler in den Feststellungen des Landgerichts (LG) Krefeld entdecken, das sich ausführlich mit den von der Verteidigung des Angeklagten vorgebrachten Beweisen für Thälmanns Bombentod auseinandergesetzt hat. Die Feststellung, daß Thälmann im KZ Buchenwald erschossen worden ist, hat der BGH ausdrücklich aufrechterhalten. Auch Herr Heilmann will die Richtigkeit dieser Feststellung offenbar nicht bezweifeln. Gleichwohl glaubt er, die Nazilüge, daß Thälmann erst am 28.8. gestorben sei, habe prozeßentscheidende Relevanz behalten. Das ist nicht der Fall. Der Angeklagte Wolfgang Otto war nicht nur am 17./18.8.1944 als Spieß und Mitglied des Exekutionskommandos im KZ Buchenwald tätig, sondern auch noch zehn Tage später. Schon das Landgericht Krefeld hatte sich hinsichtlich des genauen Zeitpunktes des Thälmann–Mordes nicht festlegen wollen, sondern den Zeittraum vom 17. bis 24.8. angenommen. An der Argumentationskette des Krefelder Gerichts hätte sich nichts geändert, wenn es den Todeszeitpunkt auf den 28.8. erstreckt hätte. Und auch die Berichte von Augen– und Ohrenzeugen bleiben unabhängig davon richtig, ob sich ihre Beobachtungen auf den einen oder den anderen Zeitpunkt beziehen. Nun glaubt Herr Heilmann, sein neuer Zeitplan für den Thälmann–Mord habe deshalb prozeßentscheidene Bedeutung, weil die Nebenklage neues Beweismaterial vorgelegt hat, insbesondere Kopien des Fernschreibbuchs, aus dem sich ergibt, daß Otto im tatrelevanten Zeitraum entgegen seiner Behauptung im KZ Buchenwald anwesend war. Otto hat die ihm vom BGH in bester Absicht eingeräumte Chance gesehen und genutzt, seine Ortsabwesenheit für die Tatzeit zu behaupten; anläßlich seines Geburtstages am 23.8.1944 habe seine Frau ihn besucht, und er habe eine Woche lang die Zeit vom Dienstschluß bis zum Wecken genutzt, um mit ihr in einem Hotel in Weimar zusammenzusein. Diese reichlich spät vorgebrachte Einlassung ist durch das von der Nebenklage vorgelegte Beweismaterial, das lange Jahre im Koblenzer Bundesarchiv gelegen hatte, ohne das Interesse der Staatsanwaltschaft zu finden, widerlegt worden. Die von der Nebenklage vorgelegten Fotokopien beziehen sich nicht nur, wie Herr Heilmann unterstellt, auf die Nacht zum 17. und 18.8.1944, sondern umfassen einen größeren Zeitraum. Weder vor noch nach seinem Geburtstag war Otto eine Woche lang jeweils nachts abwesend. Die Frage, warum er glaubte, eine solche Schutzbehauptung nötig zu haben, wird zusammen mit anderen Indizien für seine Täterschaft im Plädoyer zu erörtern sein. Nun ergibt sich allerdings der merkwürdige Umstand, daß sich just in der Nacht zum 28. und 29.8.1944 keine Eintragungen von Ottos Hand in dem von der Nebenklage vorgelegten Fernschreibbuch finden. Hatte Otto in dieser Nach etwas anderes zu tun, als Fernschreiben entgegenzunehmen? Sein Märchen vom Hotel in Weimar könnte nur Glauben finden, wenn es für diese Idylle an acht aufeinanderfolgenden Tagen eine Lücke im Telexbuch gäbe. War er also vielleicht wirklich an diesem von Herrn Heilmann favorisierten 28.8. mit der Erschießung Thälmanns so andauernd beschäftigt, daß er sich für andere Pflichten vertreten lassen mußte? Die Verlegung des Thälmann– Mordes auf den 28.8. bietet dem Angeklagten also keine neuen Verteidigungschancen. Aber er wird sie nutzen. Darum noch ein Wort zu der von Herrn Heilmann betriebenen Selektion der Beweismittel, mit denen er seine Dolchstoßlegende schmückt. Nicht einmal die für den Prozeß unerhebliche These seines Aufsatzes ist schlüssig belegt. Mit Willi Bleicher zitiert der Autor zwar einen seriösen Zeugen für die These, daß Thälmann erst nach dem Luftangriff auf Buchenwald erschossen worden sei. Eine entsprechende Äußerung Bleichers befindet sich in den Akten, und sie ist nicht die einzige. Nichts Neues also, was Herr Heilmann insoweit mitteilt. Für die Beweiswürdigung entscheidend wichtig aber ist immer und gerade hier die Nähe des Zeugen zum eigentlichen Tatgeschehen. Bleicher und andere Häftlinge bekamen ihre Informationen über den Thälmann–Mord aus zweiter und dritter Hand. Willi Bleicher hat in einem Schreiben vom 4.12.1962 an die Staatsanwalt folgendes mitgeteilt: Thälmann ist nach dem Bombenangriff auf das KonzentrationslaBleicher - 1981 verstorben - ist nie zu seinem Wissen vernommen worden, so daß wir auf die Interpretation dieses Schreibens in Verbindung mit anderen Zeugenaussagen angewiesen sind. Ob der SS–Scharführer Berger tatsächlich schon am Morgen nach dem Thälmann–Mord einem Häftling hierüber berichtet hat, dürfte mehr als zweifelhaft sein. Auch für die SS war erst mit dem Luftangriff vom 24.8. der unverhoffte Anlaß gegeben, von Thälmanns Tötung offen zu sprechen. Denkbar, daß nunmehr Berger gegenüber einem Häftling, zu dem er eine gewisse Vertraulichkeit hergestellt hatte, ein Stück Wahrheit mehr rausgelassen hat, als er durfte. Fraglich bleibt, ob er auch über den Zeitpunkt des Mordes, den die SS mit Lautsprecherdurchsagen sogleich mit dem Luftangriff verband, die Wahrheit gesagt hat. Es ist anzunehmen, daß es Häftlinge gab, die entgegen Willi Bleichers Annahme früher die Wahrheit kannten als er. So hat der 1974 verstorbene Gewerkschaftsange stellte Ludwig Becker - auch seine Vernehmung ist nicht für nötig gehalten worden - der Staatsanwaltschaft mit Schreiben vom 8.1.1963 mitgeteilt, daß „am Morgen nach der Ermordung und in den folgenden Tagen unter den Häftlingen des Lagers allgemein und unter den politischen Häftlingen im besonderen über dieses Vorkommnis (Ermordung Thälmanns) von Mund zu Mund berichtet wurde“. Danach sei Thälmann in der Nacht vom 18. zum 19.8.1944 ermordet worden. Becker hat hierüber, wie wir aus einer Aussage des heute noch lebenden Zeugen Edu Leitner wissen, diesem noch vor dem Luftangriff vom 24.8.1944 berichtet. Leitner konnte den Zeitpunkt dieses Gesprächs deshalb festlegen, weil es in der Dunkelkammer der Fotoabteilung stattgefunden habe, die später beim Bombenangriff in Schutt und Asche gelegt worden sei. Auch der vom Landgericht Krefeld am 23.1.1986 vernommene Rentner Wilhelm Eppinger beantwortete die Frage, ob die Nachricht über den Tod Ernst Thälmanns vor oder nach dem Bombenangriff vom 24.8.1944 durch das Lager gegangen sei, wie folgt: Diese Nachricht ist mit Sicherheit vor dem Bombenangriff verSchließlich sei noch der Zeuge Ulrich Osche, ebenfalls politischer Häftling in Buchenwald, mit einer richterlichen Aussage vom 26.2.1963 zitiert. Der im Krematorium tätige Kapo Jupp Müller habe ihm schon am 18.8.1944 eine Information bestätigt, die er von den polnischen Häftlingen des Leichenträgerkommandos bekommen hatte, wonach in der vergangenen Nacht Ernst Thälmann im Krematorium erschossen und verbrannt worden sei. Auf eben diesen Jupp Müller geht auch die Information des sowohl in Krefeld als nunmehr auch in Düsseldorf vernommenen Zeugen Zbigniew Fuchs zurück. Ihm und den anderen Mitgliedern des Leichenträgerkommandos hatte Müller auf Fragen nach den Ereignissen der vergangenen Nacht, deren Ohrenzeugen sie geworden waren - Fuchs berichtete von der auf eine Sonderaktion hindeutenden Einsperrung der Häftlinge, von den mit der Erschießung und Verbrennung eines Menschen verbundenen Geräuschen, von den Schußspuren im Krematorium und von der Auffindung einer verglühten Taschenuhr in der Asche -, den Namen Thälmann genannt. Fuchs, der sowohl in Krefeld als auch in Düsseldorf einen vorzüglichen Eindruck hinterließ, war sich sicher, daß diese Sonderaktion in der Nacht vom 17. zum 18.8.1944 stattgefunden hat. Er konnte sie heute wie damals in zeitliche Beziehung zu seinem Geburtstag am 14. August setzen. Heilmanns Einwand, „daß der Alltag im KZ immerhin so sichere Zeitbestimmungen schwermachte“, ist nichts als peinlich. Mit Fuchs stand und steht ein unmittelbarer Zeuge für die Mordtat vom 17./18.8.1944 zur Verfügung. Er hat, bevor er mit den anderen Häftlingen des Leichenträgerkommandos eingesperrt wurde, mehrere SS–Dienstgrade im Hof des Krematoriums gesehen und namhaft gemacht. Wolfgang Otto war nicht darunter. Aber die Schlußfolgerung der Nebenklage, daß auch Otto von der kollektiven Mordtat gewußt haben muß, wenn die anderen davon wußten, dürfte zwingend sein. Gerade Otto genoß in hohem Maße das Vertrauen des Lagerkommandanten. Es gab keinen Grund, ausgerechnet ihn, der bei Exekutionen regelmäßig als Leiter, Protokollführer oder Schütze mitwirkte, in diesem Fall aus dem Informationsfluß zu nehmen. Er aber will uns glauben machen, daß er, der Spieß der Kommandantur, die rechte Hand des Adjutanten, erst Wochen später aus der NS– Presse entnommen habe, daß Thälmann in Buchenwald zu Tode gekommen sei, und zwar infolge eines Luftangriffs. Der Angeklagte Otto ist der gefährlichste Belastungszeuge gegen sich selbst. Aber es gibt noch einen, der unmittelbar dabei war, oder richtiger: es gab ihn. Der 1967 verstorbene polnische Häftling Marian Zgoda hat in zahlreichen, zeitlich weit auseinander liegenden Vernehmungen seine Beobachtungen in der Mordnacht, die er, hinter einem Schlackehaufen versteckt, gemacht haben will, im Kern gleichbleibend geschildert. Die Erörterung seiner Glaubwürdigkeit wird Sache der Plädoyers sein. Eine Angabe Zgodas aber war nie zweifelhaft: Er hat auch die von Zbigniew Fuchs geschilderte Sonderaktion stets auf den 17./18.8.1944 datiert. Demgegenüber bietet Heilmann nunmehr den Zeugen Dr. Morgen auf, einen ehemaligen SS–Richter, der, vom Angeklagten Otto um Hilfe angegangen, seinen alten SS–Kameraden nicht im Stich gelassen hat. Morgen gab eine Tatversion zu Protokoll, die ihm der Lagerkommandant Pister erzählt haben soll, wonach nur dieser, sein Adjutant und die beiden Begleiter Thälmanns bei dessen Erschießung zugegen gewesen seien. Die Begleiter sind nie gefunden worden, die beiden anderen waren, als Morgen aussagte, schon tot. Morgens Aussage ist vom LG Krefeld in eingehender Analyse widerlegt worden. Sie gibt überdies nichts für den Tatzeitpunkt her. Wenn schließlich Heilmann aus dem Zeitpunkt der Gedächtnisfeier für Thälmann, die freilich erst nach dem Luftangriff stattgefunden hat, Indizien für seine These herleiten will, so bleibt diese unverständlich. Ein Verwirrspiel um Zahlen und Namen, das sich auflöst, wenn man weiß, daß es mehrere Feiern gegeben hat. An der Feier, die zu Verhaftungen von Teilnehmern führte, hat der erwähnte Zeuge Leitner teilgenommen, der schon kurz vor dem Bombenangriff von Thälmanns Tod wußte. Das LG Düsseldorf wird darüber zu entscheiden haben, ob Wolfgang Otto 44 Jahre nach dem Mord an Ernst Thälmann noch als Mitschuldiger überführt werden kann. Der BGH hat das Seine dazugetan, durch erhöhte Beweisanforderungen die Lösung der Aufgabe zu erschweren. Heilmanns selektives Beweisprogramm trägt jedenfalls nichts zur Wahrheitsfindung bei.