Wandel Eigentlich braucht Wolfgang Widera nur den alten Industriehafen in Offenbach, um zu überleben. Aber der verschwindet nach und nach: Keine Pickel vom Main
aus OffenbachKatharina Müller-Güldemeister
Manche nennen ihn Hafenratte. Wolfgang Widera hat nichts gegen Hafenratten, wenn sie ihm nicht gerade den Fisch aus dem Zelt fressen. Auch als Spitzname ist das okay. Er trägt diesen und andere Namen wie Orden, er hat sie nicht irgendwo aufgesammelt, sondern verdient.
Widera braucht nicht viel mehr als den ehemaligen Industriehafen in Offenbach, um zu überleben. Jedenfalls war das so, bevor dort Wohnungen, Supermärkte und Arbeitsplätze entstanden.
Jeder im angrenzenden Nordend kennt den kleinen Mann Mitte vierzig, der gern mit Sandalen und afrikanisch gemusterten Shorts herumläuft – egal, ob sie ihn Hafenratte, Indianer, roter Baron oder einfach nur Wolfgang nennen. Und auch Widera kennt alle. Dabei ist er kein echter Offenbacher, sondern kommt aus Sachsen-Anhalt.
Eine Weile wohnte er auf einem Schiff, das im Hafen festgebunden war. Wenn er sich danach fühlte, paddelte er mit einem Surfbrett durch das Hafenbecken und aß von den Brombeersträuchern am Ufer. Wenn er Geld brauchte, sammelte Widera Flaschen am King Kamehameha Beach Club an der Spitze der Insel. Sein Sohn, der bei seiner Exfreundin im Nordend lebte, half ihm oft. Wenn sein Lastenfahrrad voll war, brachte Widera das Pfandgut in sein Boot und zog wieder los. An guten Tagen ließen sich so rund 70 Euro verdienen.
Seinen rötlich-weißen Bart rasierte er mit Wasser aus dem Main. „Ich habe nie Ausschlag oder Pickel bekommen“, sagt er. Auch sein Essen holte er oft aus dem Fluss. Zander, Spiegelkarpfen und Barsch schmorten regelmäßig in seiner Pfanne.
Eines Tages brannte sein Schiff ab, weil der Ofen explodierte. Als er von Bord sprang, zerbarsten gerade die Fenster. Später schlug Wolfgang sein Lager auf der Wiese neben der alten Ölhalle auf, in der Studenten der Hochschule für Grafik arbeiteten und Partys feierten. Widera mochte ihre Gesellschaft. Als Mitarbeiter der Stadtwerke ihn fragten, was er auf ihrem Grundstück treibe, sagte er: „Ich schaue hier nur nach dem Rechten.“ Sie ließen ihn.
Bei den Grillfesten an der Ölhalle fiel immer etwas für ihn ab. „Eine Hand wäscht die andere“, sagt Wolfgang. Auch im Hafengarten funktionierte dieses Motto. Auf der Brache, wo in Brotkisten, Autoreifen und selbst gebauten Hochbeeten Zucchini, Tomaten und Blumen wuchsen, kümmerte er sich um die Pflanzen einer Bekannten. Dafür durfte er sich manchmal etwas abzweigen.
Eines Tages kam die Polizei zu Wideras Stammkiosk in der Bettinastraße. Monate zuvor war er mit 3,4 Promille beim Radfahren erwischt worden. Die Polizei hatte ihm den Geldstrafenbescheid an seinen Briefkasten an der Hafenmeisterei geschickt. Und später auch die Mahnungen. Widera hatte aber seitdem nicht mehr reingeschaut.
Die Polizisten forderten 2.000 Euro, die er nicht hatte. „Da habe ich eben hundert Tage in Preungesheim abgesessen. Das war nicht wie Gefängnis. Das war wie Jugendherberge.“
Widera war im Gefängnis für die Essenausgabe zuständig und musste Flur, Toiletten und Fernsehraum putzen. „Am Ende habe ich gefragt, ob sie eine Festanstellung für mich haben“, sagt er und legt sein Seeräubergrinsen auf. Er meint es aber ernst. „Hat leider nicht geklappt.“
Nach seinem „Urlaub“, wie er seine Zeit dort nennt, war sein Igluzelt weg, das im gleichen Blau gestrahlt hatte wie der alte Hafenkran an der Kaimauer. Auch die Ölhalle ist mittlerweile weg, genauso wie der legendäre Beach Club und der mit Efeu bewachsene Lokschuppen, in dem es Konzerte, eine Kneipe und ein Kino gab. Verschwunden ist auch die Natur, die sich über die Jahre auf der Brache entwickelt hatte. Widera hat für seine damalige Freundin dort oft einen Blumenstrauß gepflückt, wenn er in den Morgenstunden vom „Robert Johnson“-Club über die Hafenflächen zu ihr lief. Manchmal kreuzte ein Fuchs seinen Weg. Seit so viel gebaut wird, hat er keinen mehr gesehen.
Heute wohnt Widera in einem Wohnheim der Diakonie und teilt sich mit einem anderen ein Zimmer. Wenn die Sonne scheint, legt er sich gern auf eine Bank an der neuen Hafentreppe. Die haben sie schön gemacht, findet er. Auch dass die Hafeninsel nun bebaut wird, findet er nicht schlecht. Selbst wenn man noch nicht weiß, wie sie sich entwickelt. „Klar, lieb ich meinen Hafen trotzdem. Ich hab nur Angst, dass das Alternative weggeht“, sagt er. „Es wird weggehen“, fügt er hinzu.
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