Wahlkampf in der Schweiz: "Konkordanz ist mit Demagogen nicht möglich"
Das Schweizer Konsensprinzip ist am Ende, sagt der Künstler Thomas Hirschhorn und fordert eine klare Konfrontation mit der SVP.

taz: Herr Hirschhorn, was ist das Besondere an der Schweizerischen Volkspartei?
Thomas Hirschhorn: Dass sie pure Demagogie betreibt und zugleich Opposition und Regierungspartei ist.
Warum findet die Linke kaum eine Antwort auf deren Rechtspopulismus?
THOMAS HIRSCHHORN, 50, ist einer der international renommiertesten Schweizer Künstler. Seit Ende 2003 stellt er aus Protest gegen die Beteiligung der SVP an der Regierung nicht mehr in der Schweiz aus. Seine Installation "Swiss-Swiss Democracy", die er 2004 in Paris zeigte, wurde in der Schweiz als Skandal gesehen.
Deshalb. Und weil es die Linke in der Schweiz schon vor Jahren verpasst hat, in die Opposition zu gehen. Die Sozialdemokratische Partei ist nur beschränkt glaubwürdig, denn als Regierungspartei stützt sie das desolate "Konkordanzsystem", das für den heutigen Zustand verantwortlich ist. "Konkordanz" aber ist mit Demagogen nicht möglich.
Was hätte die Linke tun sollen?
Als Regierungspartei hat die SP die Wahl Blochers in den Bundesrat wenn auch nicht unterstützt, so doch vier Jahre mitgetragen. Ihr Argument lautete: "Wir haben ihn lieber drinnen als draußen." Die Kurzsichtigkeit und Gefährlichkeit dieses Arguments ist nun offensichtlich geworden. Nur eine glasklare Konfrontation kann die SVP zurückdrängen.
Ist das Schweizer Konsensprinzip am Ende?
Genau, denn es entspricht schon lange nicht mehr der Realität, in der klare, für den Bürger nachvollziehbare und messbare Ziele und Richtlinien notwendig sind. Hinzu kommt, dass die SVP und Blocher im Bundesrat das Konkordanzprinzip vollständig ausgehöhlt haben.
Wegen der vielen Volksabstimmungen gilt die Schweiz doch als Musterdemokratie.
Aber der Begriff Demokratie wird von innen ausgehöhlt. Die Schweiz wurde zunehmend "demokratisiert". Die Schweizer Demokratie wird zur "heiligen Kuh", der alles geopfert wird, ohne zu merken, dass dabei zukunftsorientierte und innovative Entscheidungen unmöglich gemacht werden. Über alles und jedes soll "demokratisch" entschieden werden. Doch dabei geht es nur noch um Interessenverteidigung. Ein "demokratisierter" Bürger ist kein wirklicher, freier Demokrat mehr, sondern ein mit dem Wort "Demokratie" domestizierter und anästhetisierter Interessenvertreter.
Sie haben vor vier Jahren, beim ersten großen Erfolg der SVP, von einem "schleichenden Faschismus" gesprochen. Sehen Sie das heute noch so?
Es ist schlimmer als vor vier Jahren, trotz der laufend wiederholten, mutlosen und einschläfernden Beschwichtigung, dass alles gar nicht so schlimm sei. Denn tatsächlich nehme ich wahr, dass in der Schweiz - der es sehr gut geht - mehr und mehr Leute Angst haben vor dem Anderen, vor dem Fremden und allem, "was nicht auf eigenem Boden gewachsen" ist. Die jahrelange Politik der Abschottung hat zu dieser Angst geführt, und ich schäme mich dafür, dass in meinem Land Ressentiments und Fremdenfeindlichkeit offen propagiert werden können.
Wir wirken sich diese Dinge auf die Öffentlichkeit und die Kulturproduktion aus?
Das Bild einer ängstlichen, abwehrenden und zugeknöpften Schweiz geht um die Welt. Und dieses Bild hilft niemandem im Land, die Herausforderungen der heutigen Welt mit Mut, mit Vertrauen ins eigene Können und mit Kreativität anzupacken. Zudem findet eine Depolitisierung statt - aus Angst anzuecken und Probleme zu kriegen.
Halten Sie sich noch häufig in der Schweiz auf?
Ich fahre aus privaten Gründen gelegentlich dorthin. Aber seit Ende 2003, seit Blochers Wahl in den Bundesrat, stelle ich aus Protest nicht mehr in meinem Land aus. Dennoch bleibt die Schweiz mein Land, auf das ich stolz sein will wegen der Errungenschaften und der Werte, die es sich erobert und errungen hat und die es weiterzuentwickeln und zu teilen gilt. Das Projekt "Schweiz" darf nicht auf Fremdenfeindlichkeit und Angst vor der Zukunft reduziert bleiben.
Eine Koalition, die was bewegt: taz.de und ihre Leser:innen
Unsere Community ermöglicht den freien Zugang für alle. Dies unterscheidet uns von anderen Nachrichtenseiten. Wir begreifen Journalismus nicht nur als Produkt, sondern auch als öffentliches Gut. Unsere Artikel sollen möglichst vielen Menschen zugutekommen. Mit unserer Berichterstattung versuchen wir das zu tun, was wir können: guten, engagierten Journalismus. Alle Schwerpunkte, Berichte und Hintergründe stellen wir dabei frei zur Verfügung, ohne Paywall. Gerade jetzt müssen Einordnungen und Informationen allen zugänglich sein. Was uns noch unterscheidet: Unsere Leser:innen. Sie müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Es wäre ein schönes Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Friedensforscherin
„Wir können nicht so tun, als lebten wir in Frieden“
CDU-Chef Friedrich Merz
Friedrich der Mittelgroße
Nach Hitlergruß von Trump-Berater Bannon
Rechtspopulist Bardella sagt Rede ab
Klimaneutral bis 2045?
Grünes Wachstum ist wie Abnehmenwollen durch mehr Essen
Prozess gegen Maja T.
Ausgeliefert in Ungarn
Wahlentscheidung
Mit dem Wahl-O-Mat auf Weltrettung