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Archiv-Artikel

Wahlheimat ganz ohne Plüsch

ORTSWECHSEL Weil das Große Haus des Oldenburgischen Staatstheaters saniert wird, zieht das Theater kommende Spielzeit auf den ehemaligen Fliegerhorst um. Ein Ausweichquartier mit Chancen und Risiken

Was werden die hier stationierten Jagdflieger in dem holzvertäfelten Raum mit der Fototapete, Typ „Deutscher Wald“, wohl so alles erlebt haben?

VON FELIX ZIMMERMANN

„Mollig warm“ soll es werden, „vor Zugluft geschützt“ – und „keiner wird frieren müssen“. Damit sollten die größten Sorgen des Oldenburger Theaterpublikums vor einer ungewissen Zukunft genommen sein. Was auch immer auf der Bühne passieren mag: Hauptsache, es ist schön kuschelig.

Mit einem umfänglichen Fragenkatalog hat sich das Oldenburgische Staatstheater, Niedersachsens drittgrößtes Haus, auf das größte Wagnis seiner Geschichte vorbereitet. Die Antwort auf Frage Nummer sechs – nach der Wetterfestigkeit der Ausweichspielstätte – dürfte ziemlich entscheidend dafür sein, ob die Halle 10 des Fliegerhorstes am Stadtrand angenommen wird, wenn das Große Haus, mitten in der Stadt gelegen, in der kommenden Spielzeit saniert wird.

Bequem ist es dort, die Sitze plüschig weich, das Ambiente so neobarock, dass der Saal haarscharf am Kitsch vorbei schrammt. In Halle 10 wird alles anders sein. 1936 gebaut, um dort an Flugzeugen herumzuschrauben, die von der Startbahn gleich nebenan ihre Einsätze flogen: eine Fabrikhalle, nüchtern, kalt und zugig, zumindest derzeit noch. Da soll Theater gespielt werden?

Unter den Leitbegriff „Wahlheimat“ hat das Staatstheater die kommende Spielzeit gestellt, was suggeriert, man habe sich das temporäre Quartier ausgesucht. Hat man aber nicht: Es war unausweichlich, eben weil das Große Haus erneuert werden muss. Größter Posten wird dabei die Obermaschinerie sein, die in Oldenburg immer noch per Hand bedient wird. Das hat musealen Charakter, erfordert vor allem Arbeitskräfte und starke Arme und ist laut Theatersprecherin Sylvia Fritzinger in Holland längst verboten. Viel Geld wird in die Erweiterung des Orchestergrabens gesteckt werden, das soll mehr Platz bringen für größere Musikeraufgebote, besseren Klang – und die Erfüllung strenger gewordener EU-Normen ermöglichen, zum Schutz der Musiker vor Hörschäden. Dann sind da noch die Wasserleitungen, 1893 beim Bau des Hauses verlegt und inzwischen so marode, dass sie jetzt alle ersetzt werden; ferner kleinere Stuckreparaturen und die Anhebung des Parketts für eine bessere Sicht auf die Bühne. Neun Millionen soll das alleine kosten, bezahlt wird die Sanierung aus dem Konjunkturpaket.

Während der Bauarbeiten hätte das Theater auch in einem Zelt spielen können, das aber wurde verworfen, weil das viel teurer gekommen wäre als die Umnutzung der Halle 10 – und erst recht „Ängste bei den Leuten ausgelöst hätte, dass es zu kalt ist“, sagt Generalintendant Markus Müller. Nun also der Fliegerhorst am Ortsausgang Richtung Wiefelstede. Schafe grasen auf den Wiesen, ansonsten weiß niemand, was damit geschieht.

Müller hat den künftigen Spielort schon angenommen, freut sich gar drauf, so sehr, als könne er es kaum erwarten. Vor Wochen, als die Halle noch unberührt da stand, wie sie verlassen worden war, nachdem man 1993 das Jagdbombergeschwader 43 aufgelöst und den Flugplatz im Jahr darauf entwidmet hatte, tänzelte Müller leichten Schrittes über den steinernen Boden, und schien schon alles vor sich zu sehen: die Tribüne, den Orchestergraben, die als Foyer und Gastronomie genutzte Vorhalle.

Panzer könnten auffahren, Flugzeuge, Busse: Sachen gehen, die im Großen Haus niemals möglich wären. So viel Platz! Wagner in Originalbesetzung etwa, sagt Müller, aber auch ein ganz anderer Umgang mit dem Raum: „Die Halle ist rau und roh“, davon erwartet er sich viel und sieht ein „spannendes Experiment“, wenn dort am Stadtrand ein eigener Ort geschaffen wird.

Der entsteht jetzt: Stück für Stück wird Halle 10 einer Verwandlung unterzogen. Der Orchestergraben ist ausgehoben, seine Wände sind betoniert; die Bühnenfläche wird in den Betonboden gefräst, danach der Bühnenboden verlegt. 673 Sitzplätze werden eingebaut. Hinter den Kulissen werden Räume renoviert, die ab September Büros sein sollen, Einsingzimmer, Künstlergarderoben, Werk- und Lagerräume. Noch erzählen sie Geschichten aus der Vergangenheit – was werden die auf dem Fliegerhorst stationierten Jagdflieger wohl in dem holzvertäfelten Clubraum mit der Fototapete, Typ „Deutscher Wald“, so alles erlebt haben? Schon bald werden dort Theaterleute sitzen und für einen störungsfreien Opernabend sorgen. Wahrscheinlich ist das besser so.

Wie gemacht für diesen Zweck erscheint die Halle, alle werden sie ihren Platz finden, es gibt sogar einen schalltoten Raum, der sich perfekt für Tonaufnahmen eignet, und vom künftigen Foyer führt eine Tür ins Freie, der Vorplatz könnte zum lauschigen Plätzchen für die Pausen werden. Einen Teil des Areals hat das Theater ohnehin schon länger für sich erobert. Weil auch das Probengebäude saniert wird, probt das Staatsorchester im Offizierskasino, in schaurigem Ambiente, in dem sich mit nur geringem Deko-Aufwand ein Film aus dunkelbraunen Zeiten drehen ließe.

Fragt sich, ob die Oldenburger den Wechsel mitmachen. Sie fühlen sich wohl im neobarocken Plüsch, manche Theatergänger, so scheint es, kommen nur deshalb. Man kennt sich, man grüßt sich, in Symphoniekonzerten sind Sitznachbarschaften teils über Jahrzehnte gewachsen. Da ist es fast egal, was gespielt wird.

Ob sie auch an den Stadtrand kommen? Sylvia Fritzinger glaubt fest daran – mit einem Shuttleservice will das Theater eine unkomplizierte Verbindung in die Stadt schaffen, Parkplätze gibt es am Fliegerhorst eh en masse, die Gastronomie soll einladender sein als im Großen Haus, die Akustik im Saal besser. In der ersten Woche nach Bekanntgabe des künftigen Spielortes habe es nur drei Abo-Kündigungen gegeben, erwartet hatte man viel mehr. Und schließlich wird es die Gelegenheit sein, „auch mal andere Leute hierher zu holen“, sagt Fritzinger. Die, denen das Große Haus vielleicht zu fein ist und deshalb unnahbar erscheint, weil so eine Theaterfestung eben auch Schwellen aufbaut.

Müller und seine Leute wissen nicht, wie die Spielzeit 2010 / 11 verlaufen wird. Es wird ein Abenteuer, die Wahlheimat ist eben vor allem Wagnis, aber das Gefühl sagt: Es wird toll, weil so ein Raum auch immer mitspielt. Man wird sehen. Halle 10 soll am 11. September eröffnet werden – mit Brechts „Dreigroschenoper“.