Wahlen in Indien: Der lebendige Tote
Indien wählt einen Präsidenten. Diesmal wollte einer antreten, dessen Beerdigung man schon gefeiert hatte. Jetzt kämpft er für die Untoten.
Natürlich war es für Santosh Kumar Singh abzusehen, dass er kaum eine Chance haben würde, Indiens Präsidentschaftswahl zu gewinnen. Der 32 Jahre alte Koch ist kein Politiker, und außerdem ist er seit neun Jahren tot – zumindest offiziell.
Er wollte nur für das höchste Staatsamt antreten, um zu beweisen, dass das nicht stimmt. „Ich habe beschlossen, mich für die Wahl aufstellen zu lassen, um die Regierung daran zu erinnern, dass ich lebe“, sagte Santosh.
Monatelang hat der schlanke, bärtige Mann am Jantar Mantar kampiert – dem „Protestodrom“ von Indien. Um die Sternwarte aus dem 18. Jahrhundert inmitten der Hauptstadt Neu-Delhi versammeln sich jeden Tag Menschen, die demonstrieren – für die Freiheit Tibets, gegen Korruption, für Erleuchtung. Santosh hatte an einem Gitterzaun ein kleines Plakat befestigt: „Uttar Pradesh hat mich für tot erklärt, aber ich bin am Leben.“
Der Termin: Am Donnerstag wird ein neuer indischer Präsident gewählt. Die jetzige Präsidentin Pratibha Patil tritt nicht mehr an. Der Kandidat der Regierungskoalition heißt Pranab Mukherjee, er war bis Ende Juni Finanzminister, bevor er zurücktrat, um sich um das Präsidentenamt zu bewerben.
Das System: Die indische Gesellschaft wird noch immer von ihrem Kastensystem geprägt. Es gibt vier Kasten: Brahmanen, Kshatriyas, Vaishyas, Shudras. Die Kasten sind Berufsgruppen zugeordnet, die praktisch aber kaum noch eine Bedeutung haben. Am unteren Ende stehen die Unberührbaren, die Kastenlosen.
Doch sein Protest blieb ohne Resonanz. Auch seine Schreiben an die indische Regierung brachten keinen Erfolg. Santosh stammt aus dem Bundesstaat Uttar Pradesh in Nordindien. Dort, so sagt er, gehört ihm ein Stück Land, das ihm seine Familie weggenommen hat, indem sie ihn für tot erklärte.
Santosh ist nicht der Einzige, den Verwandte aus dem Melderegister haben streichen lassen, um sich zu bereichern. Kürzlich erst hat sein Heimatstaat Uttar Pradesh die Meldedaten von 221 Menschen korrigiert – und sie so wiederbelebt.
Die Präsidentschaftskandidatur als Protest: Das war sein Plan. Allerdings scheiterte er schon bei der Registrierung. „Sie haben mich wieder weggeschickt, weil ich keinen Personalausweis habe“, erzählt Santosh der Times of India. Ein solches Dokument fehlt vielen Armen in Indien.
Der Irrweg von Santosh Kumar Singh begann mit einer Liebesheirat, die seiner Familie nicht passte, so erzählt er das. Eigentlich begann er noch früher – mit Bollywood, der Traumfabrik Indiens, die eines Tages in das verschlafene Dorf Chittoni kam, in dem Santosh lebte.
Ein Filmteam heuerte Santosh als Koch an. Für den damals 20-Jährigen, der als Waisenkind aufwuchs, war es, als seien die Götter vom Himmel herabgestiegen. Santosh folgte einem Bollywood-Star in die Millionenstadt Mumbai, wo die Kinofilme für ein Milliardenpublikum entstehen.
Frei von den Zwängen seines Dorfs heiratete der Koch in der Großstadt eine Frau aus der Dalit-Kaste, eine Unberührbare. Das Paar bekam einen Sohn, und die Welt war in Ordnung. Doch was in Mumbai, dem Schmelztiegel Indiens, geht, ist anderswo im Land immer noch ein Tabu. Als Santosh 2003 zurück in sein Dorf kam, musste er feststellen, dass seine Familie ihn für tot erklärt hatte. Seine Onkel und Cousins hatten ihn als vermisst gemeldet, später dann seine Bestattung gefeiert und für Santosh, den Bollywood-Ausreißer, den Totenschein ausstellen lassen.
Natürlich ging es auch um die fünf Hektar Land, die Santosh gehören würden, wenn er nicht tot wäre. Santosh sieht sich um sein Erbe betrogen, weil er eine „Unberührbare“ geheiratet hat.
Offiziell ist Diskriminierung wegen der Zugehörigkeit zu einer Kaste in Indien gesetzlich verboten, doch wer nur einen kurzen Blick in die Heiratsanzeigen einer indischen Zeitung wirft, sieht, wie lebendig das System weiterhin ist. Dort suchen Brahmanen – das ist die höchste Kaste – einen brahmanischen Bräutigam für ihre Tochter. Kasten- und Unterkasten sind fein säuberlich getrennt. Eine Vermählung außerhalb der eigenen Reihen ist unüblich und meist unerwünscht. Indiens neuer Reichtum verstärkt das System eher: Neben der Kaste muss jetzt auch das Geld stimmen, wenn geheiratet wird.
Seit 2003 tut Santosh alles, um zu beweisen, dass seine Familie ihn zu Unrecht für tot erklärt hat. Das ist nicht ganz einfach in Indiens orientalischer Bürokratie: Die Dorfpolizei hielt zu den Angehörigen. Santosh glaubt, seine Familie habe Bestechungsgelder gezahlt. Als er die Polizei um Hilfe bat, wurde ihm beschieden, er solle lieber das Weite suchen: „Noch bist du nur auf dem Papier tot, aber wenn du nicht aus dem Dorf verschwindest, dann bist du es bald wirklich“, so erzählt Santosh einmal von seiner Begegnung mit den Ordnungskräften.
Appelle an die Nationale Menschenrechtskommission blieben ebenso ungehört wie Besuche auf diversen Polizeistationen. Santosh versucht seit neun Jahren Beweise zu sammeln, dass er am Leben ist.
Diesen und viele andere spannende Texte lesen Sie in der aktuellen sonntaz vom 14./15.7.2012. Am Kiosk, eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und für Fans und Freunde: facebook.com/sonntaz.
Ziemlich sicher wird der frühere Finanzminister Pranab Mukherjee am kommenden Donnerstag in das höchste Staatsamt gewählt, das ähnlich wie in Deutschland kaum politische Macht, sondern mehr moralisch-dekorativen Charakter hat. Der 76-jährige Politikveteran ist von der regierenden Kongresspartei aufgestellt worden.
Santosh Kumar Singh hingegen darf gar nicht kandidieren. Aber irgendwie gewinnt er trotzdem. Seine Geschichte geht um die Welt. Man berichtet über ihn. Er wirkt sehr lebendig – wenn auch noch nicht auf dem Papier.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Historiker Traverso über den 7. Oktober
„Ich bin von Deutschland sehr enttäuscht“
Elon Musk greift Wikipedia an
Zu viel der Fakten
Grünen-Abgeordneter über seinen Rückzug
„Jede Lockerheit ist verloren, und das ist ein Problem“
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Das Weihnachten danach
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
Der Fall von Assad in Syrien
Eine Blamage für Putin