Wahl 2011: Klarmachen zum Kentern
Einst als hoffnungsvoller Newcomer gestartet, reibt sich die Piratenpartei inzwischen intern auf. Umfragen sehen die Datenschutz-Verfechter inzwischen bei drei Prozent - doch die Mitglieder glauben an den Einzug ins Abgeordnetenhaus.
Am Dienstagabend im Neuköllner Club Kinski ist die Welt der Berliner Piratenpartei in Ordnung. Es ist kurz nach acht, seit einer halben Stunde trudeln Menschen in den kleinen Laden in der Friedelstraße. Im Hinterzimmer sitzen die Raucher, stöpseln ihre Notebooks in die Steckdosen und tippen konzentriert. Vorne haben sich einige Mitglieder Bier geholt und in den alten Sesseln Platz genommen. Das Licht ist gedämpft, an den Wänden hängen Schwarz-Weiß-Drucke, dazwischen blättert die in die Jahre gekommene goldene Farbe ab. Aus den Lautsprechern in den Ecken kommt leise Musik.
"Nach dem ruhigen letzten Jahr kommen die Leute wieder", sagt Martin Delius und lässt sich in einen Sessel fallen. Delius steht auf Platz vier der Landesliste. Viele der Anwesenden hier entpuppen sich als Direktkandidaten. Friedrichshain-Kreuzberg eins und vier sind da, Steglitz-Zehlendorf eins, Delius kandidiert auch für Pankow drei.
Vor zwei Jahren war das Boom-Jahr für die Piratenpartei. Ausgelöst von Plänen der Bundesregierung debattierte die Bundesrepublik über Vorratsdatenspeicherung und Netzsperren, bei der Bundestagswahl gab es einen Achtungserfolg für die Neulinge, die als einzige Partei Netzkompetenz mitbrachten. 3,4 Prozent der Stimmen in Berlin, in einem Wahlkreis in Friedrichshain-Kreuzberg sogar 9 Prozent. Das war knapp hinter der CDU. An einem einzigen Abend sammelte der Verband mehrere Dutzend Mitgliedsanträge ein, man kam mit dem Bearbeiten gar nicht hinterher. Das hat sich gelegt. Der dienstägliche Termin ist zum Vernetzungstreffen geworden. Man hätte aus 2009 so viel nachzuholen, um sich besser kennen zu lernen, sagt Delius.
Das Selbstbewusstsein vor der anstehenden Abgeordnetenhauswahl am 18. September ist groß. Ein Mandat für das Parlament werde man mindestens holen, sind sich alle sicher, auch Sitze in diversen Bezirksverordnetenversammlungen. Im Kinski diskutieren sie schon, wie lange es dauert, um sich in die parlamentarischen Abläufe einzuarbeiten. "Mindestens zwei Jahre", meint einer. "Es ist keine Option, nicht gleich etwas zu machen", widerspricht ein anderer. Fabio Reinhardt, ebenfalls auf der Landesliste, denkt bei einem Gespräch ein paar Tage zuvor schon laut über mögliche Koalitionsverhandlungen nach - und dass man es im Falle des Falls nicht an der Zahl der einzustellenden Polizisten scheitern lassen wolle.
Wer einen Abend im Kinski sitzt, bekommt den Eindruck einer Partei, deren Mitglieder zwar sehr von sich überzeugt sind - aber eben auch davon, dass sie für ihre gemeinsamen Ziele kämpfen wollen. Eine Partei, die vor allem ihre zentralen Werte - Datenschutz, Bürgerrechte, Transparenz - umsetzen will.
"Rosarote Brille", kommentiert das Dennis Plagge, der gerade erst nach Berlin gezogen ist. Für die kurze Zeit, die er im hiesigen Landesverband ist, habe er sich schon eine Menge Feinde gemacht. Doch Plagge legt Wert darauf, dass andere seine kritischen Ansichten teilen.
Zum Beispiel Simon Lange, ehemaliger Sprecher der Bundespartei. Er erzählt von Passwörtern privater Computer, die auf Mitgliederversammlungen parteiintern ausgespäht worden seien, von persönlichen Diffamierungskampagnen, einem Strafantrag wegen Beleidigung. "Hier gibt es eine Aggressivität, die teilweise schon strafrechtlich relevant ist", sagt Lange. "Vieles von dem, was hier passiert, widerspricht unseren Grundsätzen", sagt auch Anke Pohl, die seit rund einem halben Jahr dabei ist.
In einer E-Mail an Plagge heißt es: "Du bist einer der Menschen (...) die ich am liebsten morgen alle tot sehen würde. Das würde der Partei positive Impulse geben und endlich die Parteischädlichen aussortieren." Die Mail wurde über einen sogenannten Remailer verschickt, der keine Schlüsse über den Absender zulässt. Das würde passen zur computeraffinen Parteiklientel.
"Es fehlt an Leuten, die vielleicht eher einen geisteswissenschaftlichen Hintergrund haben", formuliert Pohl eine der möglichen Ursachen für die teils problematische Kommunikation und das angespannte Klima. Peter Pennartz aus Reinickendorf sagt, dass die Konflikte bis zu einem gewissen Grad sicher normal seien. "Aber in dem Ausmaß ist das schon eine Belastung", meint Pohl.
Für schlechte Stimmung sorgte zum Beispiel ein Konflikt um die Listenaufstellung für die Abgeordnetenhauswahl. Die Partei hatte sich für ein ungewöhnliches Verfahren entschieden und am Ende vergessen, Stichwahlen durchzuführen. Einige Mitglieder wollten diese nachträglich durchführen, andere eine Neuwahl, laut einem Schreiben der Landeswahlleiterin wäre beides in Ordnung gewesen. Über das, was danach passierte, gibt es Berichte, in denen schon mal Worte wie "Einflussnahme" fallen - oder gar härtere. "Es ist nicht demokratisch, eine Landesmitgliederversammlung erpressen zu wollen", sagt zum Beispiel Anke Pohl. Eine Gruppe aus sieben Kandidaten habe Druck ausgeübt, um geschlossen gewählt zu werden. Am Ende kam es anders - die Mitglieder entschieden, die Stichwahl nachzuholen. Doch Irritation und Ärger blieben.
Es laufe nicht immer alles harmonisch, räumt Reinhardt ein. "Wir sind eine Partei und da lastet teilweise ein hoher Druck auf den Entscheidungsträgern. Daher begegnet man sich häufiger als bei anderen Organisationen mit Spannung." Es gebe da vor allem diese eine Mailingliste, über die viel Mist laufe, auch persönliche Beleidigungen. Daher gebe es "in regelmäßigen Abständen Versuche, sich mit Leuten, die Kritik üben, zusammen zu setzen." Er betont, dass die Piratenpartei immer noch durchlässiger sei als andere - jede Idee werde diskutiert, es gebe keine Leitanträge von oben. Und: "Wenn etwas strafrechtliche Relevanz annimmt, dann ist das eine externe Geschichte."
Das sehen Kritiker anders: Gerne werde versucht, Differenzen auf die persönliche Ebene zu schieben. Dabei müsse es doch eigentlich um das Miteinander in der Partei gehen. "Es legt im Prinzip die Partei lahm", sagt Ronald, der seinen Nachnamen nicht in der Zeitung lesen will.
"Ich will etwas bewegen", begründet Pohl, warum sie nicht austritt. Sie hoffe, dass das Klima noch zu ändern sei. Sie berichtet jedoch, dass immer wieder Leute aus Unmut resignieren und die Partei verlassen. Die Eintritte hätten die Austritte stets überwogen, sagt dagegen Sprecher Philipp Magalski. Tatsächlich zeigt aber eine Tabelle, auf die er verweist, dass die Mitgliedszahlen vom Sommer bis zum Ende vergangenen Jahres leicht zurückgingen - momentan liegt sie bei 900.
"Wir sind schon noch eine Nerdpartei", sagt Pohl. Auch wenn man sich bereits thematisch verbreitert habe. So stehen im Wahlprogramm, das auf dem Parteitag am Wochenende beschlossen werden soll, die Abschaffung der Regelstudienzeit, die kostenlose Nutzung des ÖPNV und die Förderung genossenschaftlicher Wohnungen.
Möglicherweise wird die inhaltliche Ausdehnung nicht den gewünschten Erfolg bringen. "Es war ein Fehler von der Piratenpartei, sich zu früh thematisch zu verbreitern", sagt Oskar Niedermayer, Professor am Otto-Suhr-Institut der FU Berlin. Zunächst müsse eine neue Partei einen Markenkern etablieren und bekannt machen.
Auf den Wahlzetteln wird die Partei auf alle Fälle stehen. Eine gute Woche vor der Abgabefrist sind schon mehr als die notwendigen 2.200 Unterschriften dafür gesammelt. Und dann? "Ich sehe für die Piratenpartei das Potenzial, die größte unter den kleinen zu werden", sagt Niedermayer. Drei bis vier Prozent ja, über die Fünf-Prozent-Hürde hinaus nein. Die Meinungsforscher sehen es ähnlich: Bei Infratest Dimap rangiert die Partei derzeit unter drei Prozent.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Prozess zu Polizeigewalt in Dortmund
Freisprüche für die Polizei im Fall Mouhamed Dramé
MLPD droht Nichtzulassung zur Wahl
Scheitert der „echte Sozialismus“ am Parteiengesetz?
Proteste in Georgien
Wir brauchen keine Ratschläge aus dem Westen
Fake News liegen im Trend
Lügen mutiert zur Machtstrategie Nummer eins
Ex-Wirtschaftsweiser Peter Bofinger
„Das deutsche Geschäftsmodell funktioniert nicht mehr“
Scholz zu Besuch bei Ford
Gas geben für den Wahlkampf