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WISSEN UND WISSENSCHAFTWissenschaft ist keine Monokultur

In den letzten beiden Jahrhunderten haben die Wissenschaften uns Geschichten erzählt, die genauso fesselnd sind wie alte Mythen. Sie haben unsere Aufmerksamkeit auf das Verhalten von Vögeln, Fischen und Insekten gerichtet und dadurch einen Einklang mit der Natur wiederhergestellt. Aber auch die Normierung der Forschung ist Ergebnis dieses Fortschritts. Eine Wissenschaftstheorie, die aller Forschung eine einheitliche „Rationalität“ zugrundelegen will, erweist sich als untauglich, lokales Wissen wird mmer wichtiger.  ■ VON PAUL FEYERABEND

Wissenschaftler haben Strukturen im großen Rahmen aufgezeigt und die Geheimnisse im Kleinsten, einschließlich der eigenartig subjektiven Natur von Elementarteilchen. Mit ihren praktischen Resultaten haben sie eine Technologie geschaffen, die die Welt verändert hat. Jedes Jahr bringt neue Entdeckungen und Ergänzungen für die ganz prosaischen Aspekte unseres Lebens. Andererseits können wir den Schaden nicht übersehen, den die rücksichtslosen Eingriffe in Natur und Tradition unserem Planeten zugefügt haben. Alte Kulturen und Stammesverbände, die für ökonomische Sicherheit und geistige Erfüllung sorgten, wurden zerstört, ohne durch vergleichbare Strukturen ersetzt zu werden.

Sicher, Industrie und internationaler Handel bieten eine Fülle von Waren, aber nur für diejenigen, die dafür bezahlen können, und das bedeutet, daß viele Völker, die sich früher selbst versorgen konnten, jetzt auf einem Arbeitsmarkt konkurrieren müssen, der ihre Wünsche und Erwartungen nicht berücksichtigt. Außerdem gibt es weltweite ökologische Probleme. Sie sind ausführlich dokumentiert, werden recht gut begriffen und sind vielen Menschen aus persönlicher Erfahrung bekannt. Der ständige Fortschritt der westlichen Zivilisation hat viele der sogenannten Drittwelt- und ähnliche Probleme in unseren Großstädten, wie Hunger, Krankheit und Obdachlosigkeit, eher verstärkt als gelindert. Die zunehmende Normierung der Kultur, extrem ausgeprägt im Rumänien Ceaucescus, aber weltweit immer noch auf dem Vormarsch, macht das Leben deprimierenderweise immer einförmiger.

Man kann der Meinung sein, daß diese Entwicklungen kein unmittelbares Ergebnis des wissenschaftlichen Fortschritts sind – dennoch werden sie durch den Glauben vieler Wissenschaftler gefördert, daß Forschungsmethoden universell gültig und Forschungsergebnisse „objektiv“ wahr sind und daß beides daher universell angewendet werden sollte. Statt nun diese Mischung aus nützlichen und zerstörerischen Elementen detailliert zu untersuchen – als ein komplexes Unternehmen, in dem es tiefe Einsichten und aufrichtige Sorge um die Menschheit gibt, aber auch Machtspiele und oberflächliche Streitereien – statt dessen argumentieren Philosophen, Wissenschaftler und Politiker für „Wissenschaft“ als einförmiges Monster, das von einem noch einförmigeren Monster, der „wissenschaftlichen Rationalität“, gelenkt wird. Sie setzen voraus, daß diese Monster gutmütig sind, und versuchen, dafür zu sorgen, daß man ihnen gehorcht.

Aber die Bedingungen, Verfahren und Ergebnisse, aus denen die Wissenschaft besteht, haben keine gemeinsame Struktur, es gibt keine Elemente, die in jeder wissenschaftlichen Untersuchung vorkommen, aber anderswo nicht vorhanden sind. Konkrete Entwicklungen (wie etwa die Abkehr von feststehenden Kosmologien und die Entdeckung der DNA-Struktur) haben unterschiedliche Merkmale, und oft können wir nicht erklären, warum und wie diese Merkmale zum Erfolg geführt haben. Eine Wissenschaftstheorie, die Standards und Strukturelemente für alle wissenschaftlichen Unternehmungen ersinnt und ihnen unter Berufung auf „Vernunft“ oder „Rationalität“ Autorität verleiht, mag auf Laien Eindruck machen, aber für die Leute vor Ort, das heißt für Wissenschaftler, die vor einem konkreten Forschungsproblem stehen, ist das ein zu grobes Instrument. Daher läßt sich wissenschaftlicher Erfolg nicht einfach erklären. Wir können nicht sagen: „Die Struktur des Atomkerns wurde entdeckt, weil die Leute A, B oder C angewendet haben...“, wobei A, B, C und so weiter Verfahrensweisen sind, die auch, sagen wir, in der Botanik gelten. Wir können nur einen historischen Bericht über die Details geben, einschließlich der gesellschaftlichen Umstände, der Zufälle und persönlichen Idiosynkrasien.

Das uralte Mißtrauen gegenüber Ärzten hat gute Gründe

Der Erfolg eines bestimmten Verfahrens kann auch nicht als Argument dafür eingesetzt werden kann, bislang ungelöste Probleme mit standardisierten Mitteln zu behandeln. Ein solcher Ansatz unterstellt, daß es Verfahren gibt, die aus bestimmten Forschungsbedingungen herausgelöst werden können und deren Anwendung Erfolg garantiert. Aber solche Verfahren gibt es nicht. Wenn auf den Erfolg der „Wissenschaft“ hingewiesen wird, um damit beispielsweise menschliches Verhalten quantitativ zu rechtfertigen, dann fehlt diesem Argument die Durchschlagskraft. Quantifizierung ist in einigen Fällen wirkungsvoll, in anderen scheitert sie. In einer scheinbar äußerst stark quantifizierenden Wissenschaft, der Himmelsmechanik, führte sie zu Schwierigkeiten, als es um die Probleme im Planetensystem ging, und wurde durch qualitative (topologische) Gesichtspunkte ersetzt. Die westliche Medizin hat dazu beigetragen, Parasiten und einige Infektionskrankheiten auszurotten, aber das heißt noch nicht, daß sie die einzige Medizin ist, die Gutes leistet und ausnahmslos wohltuend ist – das uralte Mißtrauen gegenüber Ärzten hat gute Gründe. Die Wissenschaft der Ersten Welt ist eine Form des Wissens unter vielen; durch den Anspruch, mehr zu sein, war sie nicht länger ein Forschungsinstrument, sondern verwandelte sich in eine Pressure-group. „Wissensfortschritt“ bedeutete häufig die Zerstörung von Denkweisen und des empfindlichen ökologischen Gleichgewichts, das diese Denkweisen geschaffen hatten. Heute beginnt man, die alten Traditionen wiederzubeleben.

Physiker, Anthropologen und Umweltschützer fangen an, dem Wissen vor Ort und den lokalen Werten Aufmerksamkeit zu schenken. Eine der avanciertesten physikalischen Theorien, die Quantentheorie, enthält sogar die Vorstellung von unterschiedlichen und gegenseitig inkompatiblen Seiten der Natur, die durch unterschiedliche und gegenseitig inkompatible Methoden erkennbar sind. Wenn die Arbeit des Wissenschaftlers Auswirkungen auf die Öffentlichkeit hat, sollte diese beteiligt werden. Sie ist eine betroffene Partei (viele wissenschaftliche Entscheidungen beeinflussen das öffentliche Leben), und Beteiligung an Diskussionen, die die Wissenschaft betreffen, ist die beste wissenschaftliche Bildung für die Öffentlichkeit. Eine vollständige Demokratisierung der Wissenschaft (zu der auch der Schutz von Minderheiten, zum Beispiel Wissenschaftlern gehört) steht daher nicht im Widerspruch zur Wissenschaft als solcher, sondern nur zur schimärenhaften wissenschaftlichen Rationalität.

Es gibt schon Beispiele für einen demokratischen Umgang mit der Wissenschaft: In Gerichtsverhandlungen mit Geschworenen (Wissenschaftler erklären die Dinge, aber die endgültige Entscheidung liegt in den Händen von Laien), in einer Vielzahl von öffentlichen Diskussionen in den USA und anderswo (zum Beispiel über die Sicherheit bestimmter Atomreaktoren) und auch so kann es viele verschiedene Arten von Wissenschaft geben kann. Menschen mit unterschiedlicher gesellschaftlicher Herkunft oder aus unterschiedlichen wissenschaftlichen Schulen werden auf unterschiedliche Art und Weise an die Welt herangehen. Die Menschen haben Jahrtausende überlebt, ehe es so etwas wie westliche Wissenschaft gab. Sie kannten ihre Umgebung ziemlich genau, bis hin zu Elementen der Astronomie. Es ist wahr, daß eine Institution, die als „westliche Wissenschaft“ bezeichnet wird, heute auf der ganzen Erde die Vorherrschaft hat. Der Grund dafür ist allerdings nicht Einsicht in die ihr eigene Rationalität, sondern Machtausübung (die Kolonialmächte zwangen den anderen ihre Lebensweisen auf) und der Bedarf an Waffen: die „westliche“ Wissenschaft – und man bedenke, daß dies nur ein sehr kleiner Teil des viel größeren und vielseitigeren Phänomens Wissenschaft ist – hat bis jetzt die effektivsten Tötungsinstrumente geschaffen.

Die Feststellung, daß ohne westliche agrikulturelle Wissenschaft viele „Drittweltländer“ hungern würden, ist richtig, man sollte aber hinzufügen, daß die Probleme von früheren „Entwicklungs“formen (Monokulturen, die Verhaltensänderungen mit sich brachten, die zu Überbevölkerung führten – und so weiter) geschaffen worden sind. Auch das ist wahr. Also kann ein Ansatz nicht einfach dadurch beiseite geschoben werden, daß man einfach behauptet, er sei „unwissenschaftlich“. Wenn man sagt: „Das Verfahren, das du angewendet hast, ist unwissenschaftlich, daher können wir deinen Ergebnissen nicht trauen und dir kein Geld für die Forschung geben“, dann setzt man voraus, daß „Wissenschaft“ eine Einheit bildet, daß all ihre Bestandteile gleich stark sind, daß sie in jedem Fall erfolgreich ist und jeder Erfolg auf festgelegten Verfahrensweisen beruht, die aufgeschrieben, erlernt und mechanisch angewendet werden können. Keine dieser Annahmen stimmt. Wissenschaft ist keine Einheit, ihre Bestandteile haben ganz unterschiedliche Stärke (wenn man beispielsweise die Himmelsmechanik mit einigen ökonomischen Modellen vergleicht), Scheitern ist häufiger als Erfolg und Erfolg ist das Ergebnis methodologischer Kühnheit und nicht des Festhaltens an einer klar zurechtgelegten „Rationalität“. Wissenschaftler sind wie Architekten, die Gebäude aus einem unbekannten Material errichten und über die man erst urteilen kann, wenn sie ihre Strukturen vollendet haben: vielleicht bleiben sie stehen, vielleicht stürzen sie ein, vielleicht bleiben sie in einem Übergangszustand – man weiß es nicht.

Paul Feyerabend

Philosoph und Wisenschaftstheoretiker, lehrte 1959 bis 1990 an der Universität von Kalifornien und von 1980 bis 1990 in Zürich.

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