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WIRTSCHAFTSMINISTER DERVIS‘ RÜCKTRITT STÄRKT DIE DEMOKRATENChance für eine neue Türkei

Fast zu lange hat er gezögert, bis er endlich zurückgetreten ist: Kemal Dervis, bislang parteiloser Wirtschaftsminister und so etwas wie die vierte Kraft am Kabinettstisch des siechen Bülent Ecevit. Sein Zögern hat die Erneuerung der türkischen Politik, die mit dem Rücktritt des Außenministers Ismail Cems und mehr als der Hälfte der Abgeordneten aus Ecevits DSP begonnen hatte, fast schon wieder zum Erliegen gebracht. Denn Cems Aufbruch zu neuen Ufern, seine neu gegründete „Neue Türkei Partei“ drohte bereits zum Gespött seiner Konkurrenten zu werden, weil Dervis, mit dem Cem den Neubeginn verabredet hatte, nicht den Absprung riskierte.

In der Türkei gibt es bisher mit der MHP eine rechte, ultranationalistische und mit der AKP eine islamistische politische Bewegung. Dazwischen tummelt sich das konservativ-bürgerliche und linksnationalistische, republikanische Lager. Diese beiden Lager haben seit den 50er-Jahren, mit Ausnahme eines Jahres, immer den Ministerpräsidenten gestellt. Die bisherigen Führungsfiguren dieser Bewegungen sind verbraucht – und die Wähler ihrer überdrüssig. Männer wie Mesut Yilmaz und Hüsamettin Özkan, aber auch Frau Tansu Ciller, sind in unzählige Korruptionsskandale verwickelt und, ganz unabhängig davon, was sie im Moment politisch gerade vertreten, als Galionsfiguren für einen Aufbruch in eine neue, demokratische Türkei völlig ungeeignet.

Das ist die Chance für Kemal Dervis und Ismail Cem. Dervis ist tatsächlich ein neues Gesicht, und Cem, der am längsten amtierende Außenminister der Türkei, hat sich bisher aus den innenpolitischen Kämpfen so weit herausgehalten, dass er als unbelastet gelten kann. Beide vertreten glaubwürdig eine zivile, nach Westen orientierte, demokratische Politik. Die beiden dürfen sich jetzt nicht in die Intrigen und Spielchen der alten Parteiführer hineinziehen lassen, sondern geradlinig eine politische Reformbewegung aufbauen, die da weitermacht, wo das Parlament mit der Abschaffung der Todesstrafe und der Einführung kultureller Rechte für die Minderheiten aufgehört hat. Dann haben sie die Chance, tatsächlich zu den Bannerträgern einer neuen Türkei zu werden. JÜRGEN GOTTSCHLICH

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