: WAS IST WIRKLICHKEIT? Von Dr. Erdling
Die Wirklichkeit ist eine Halluzination, die durch den Mangel an Halluzinogenen entsteht.“
Ersetzt man Halluzinogene durch Whisky, könnte es sich glatt um eine irische Trinkerweisheit handeln — daß es dennoch keine Schnapsidee ist, die Existenz der Realität zu hinterfragen, zeigt die moderne Physik. Nach der Kopenhagener Deutung der Quantenmechanik, die heute die meisten Physiker teilen, gibt es keine „tiefe“ Realität: Wirklichkeit entsteht erst, wenn ein Beobachter Maß nimmt. Diese Interpretation hat die merkwürdigen Quantenmonster hervorgebracht, die seitdem die Fachliteratur bevölkern — Schröderingers Katze, von der niemand weiß, ob sie lebendig oder tot ist, oder gar in einem undenkbaren Zustand dazwischen. Und Einsteins Maus, mit der er gegen die neue Quanten-Welt-Unordnung polemisierte: Wenn es so wäre, daß Realität erst durch Beobachtung entsteht, dann, so Einstein, könnte ja das ganze Universum dadurch erschaffen werden, daß eine Maus einfach hinguckt. Auf die Frage, warum es gerade ihm, der die Relativität von Raum und Zeit entdeckt hatte, so schwer fiele, die Relativität von Realität und Beobachter zu akzeptieren, anwortete Einstein: „Ein guter Witz sollte nicht zweimal erzählt werden.“ Mehr als 50 Jahre, und etliche Experimente und Nobelpreise später, muß man sagen: Der Relativitäts- Witz war gut, der Quanten-Witz ist besser.
In der Physik ist es seitdem gegen die herrschende Mode, darüber nachzusinnen, was in der unbeobachteten Welt wirklich vor sich geht — es ist zu komisch. Der Physiker John Bell beispielsweise hat mathematisch bewiesen, daß diese „wirkliche“ Wirklichkeit „nicht-lokal“ sein muß — das hört sich erst einmal harmlos an, bedeutet aber, daß auch scheinbar weit voneinander entfernte Dinge miteinander verbunden sind: Unter den Erscheinungen — jenseits der Beobachtung — ist die Welt ein nahtlos zusammenhängendes Ganzes. Das Bellsche Theorem sagt nichts darüber, wie der Mechanismus dieser mysteriösen Verknüpfung funktionieren könnte — es sagt nur, daß sie existiert.
Seitdem ähneln Physikertagungen zur Frage „Was ist Wirklichkeit“ den Disputen mittelalterlicher Theologen — und deshalb überläßt man das Thema lieber den Philosophen. Die wiederum halten es meistens mit Kant, nachdem wir über die wirkliche Wirklichkeit nie etwas erfahren können, weil unsere Sinne und Gehirne zu weltlicheren Zwecken eingerichtet sind. Auch hier also ein Plädoyer für Nichtbefassung.
Was ist nun mit der Wirklichkeit, ist sie wirklich nur eine Halluzination ? Der Nieselregen draußen ist doch echt. In der Tat, das ist er, aber nur so lange ihn jemand beobachtet. Heißt das also, daß nichts real ist, außer dem, was ich gerade — jetzt — beobachte. Unser Problem mit der wirklichen Wirklichkeit liegt darin begründet, daß wir immer nur zeit- räumliche Abfolgen wahrnehmen, und deshalb mit einer nicht-lokalen, über-zeitlichen Realität nichts anfangen können. Ein Physiker hat das einmal so ausgedrückt: „Die Welt geschieht nicht, sie existiert einfach.“
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