WAS IST HASS? RAT BEI JEAN-PAUL SARTRE SUCHEN : Das Scheitern des Hasses
VON ARAM LINTZEL
Das schöne vulgär-poststrukturalistische Wort „Bedeutungsproduktion“ taucht heute gern auf, nicht nur in Infozetteln zu Galerieausstellungen. Unter anderem soll es zum Ausdruck bringen, dass der für Bedeutung zuständige immaterielle Arbeiter wie der Fabrikarbeiter eingebunden ist in eine Struktur, über die er nicht verfügt.
„Ab in die Bedeutungsproduktion!“ – so könnte in den letzten zwei Wochen das innere Kommando vieler Feuilletonkommentatoren gelautet haben. Nach dem Wochenende des unfassbaren Massakers auf Utøya und dem Tod von Amy Winehouse erlebte man eine regelrechte Überproduktion, viel Bedeutung musste her, und zwar schnell.
Zweifel, Skepsis, Zurückhaltung wären Sand im Getriebe des schnellen Kommentars gewesen, der Schock sollte durch hyperaktive Diskursivierung erträglich gemacht werden. Interpretationsautomatismen wurden angeworfen: Die einen nannten einen islamfeindlichen Anschlag „Norwegens 9/11“, andere enttarnten Anders Behring Breiviks angebliche „Mittäter“. Wenn das Horrorereignis schon nicht zu ahnen gewesen war, so musste es wenigstens nachträglich in ein zusammenhängendes Narrativ gebracht werden.
Weitgehend überlesen wurde angesichts der kollektiven Erschütterung, die das Massaker in Norwegen auslöste, was nebenbei an regressiver Ideologie über Amy Winehouse verbreitet wurde: Diverse Autoren würdigten ihren Tod als Ausdruck von Wahrhaftigkeit, als ultimative Beglaubigung ihrer Glaubwürdigkeit. Hardcore-Authentizismus geht immer noch – oder, um im Bild zu bleiben: Sinn und Bedeutung lassen sich eben auch aus Fertigteilen zusammenmontieren.
Präfabrizierter Sinn: Ein Mittel dagegen könnte das philosophische Konzept der Zurückhaltung, der Epoché, wie Edmund Husserl es nannte, sein, auch wenn das jetzt in manchen Ohren vielleicht proseminaristisch klingen mag. Husserl verstand in seiner Phänomenologie darunter ein „Ausschalten“, „Einklammern“ und „Außer-Aktion-Setzen“ aller Vorannahmen und Setzungen. „Die Thesis ist Erlebnis, wir machen von ihr aber ‚keinen Gebrauch‘ “ schrieb er.
In diesem Sinne hätte man sich in den vergangenen zwei Wochen eine Art mediale Epoché gewünscht. Für die monströse Tat von Breivik hätte das geheißen: Bevor die Frage gestellt wird, woher Breiviks angeblicher Hass kommt, wäre zunächst einmal ohne psychologisierenden und politisierenden Verdacht herauszufinden gewesen, was denn dieser immerzu erwähnte „Hass“ überhaupt ist. Erst danach ließe sich dann womöglich etwas darüber sagen, ob dieser eine entscheidende Kraft für Breiviks Massenmord war.
Zwei ältere, phänomenologisch informierte „Versuche“ könnten hilfreich sein: Der Text „Versuch über den Hass“ des jüdisch-ungarischen Philosophen Aurel Kolnai aus dem Jahr 1935 und der Abschnitt „Zweite Haltung gegenüber Anderen: die Gleichgültigkeit, die Begierde, der Hass, der Sadismus“ in Jean-Paul Sartres erstmals 1943 erschienenem Buch „Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie“. Kolnai schreibt: Was der Hass verlangt und verheißt, ist […] eine Art Entscheidung über das Schicksal der Welt.“ Trotzdem meint Kolnai, dass der Hass im Unterschied zur Liebe gar nicht das Entscheidende über einen Menschen verrät: „Seine Hassbeziehungen stellen vielmehr herausragende Blöcke dar: sie mögen für seine Artung durchaus bezeichnend sein, tief in sie hineinleuchten, – aber sie bieten in keiner Weise eine Abbildung von ihm, vielmehr nur historisch gegebene Orientierungspunkte, die mehr in sich dastehen und weniger die allgemeine Stellung des Subjekts zur Welt widerspiegeln.“
Sartre erkennt im Hass einen Freiheitsdrang, der „auf den Tod des anderen geht“. Bei ihm klingt das so: „Das Für-sich will einfach eine unbegrenzte faktische Freiheit wiederfinden; das heißt sich seines unerfassbaren Für-den-andern-Objekt-seins entledigen und seine Entfremdungsdimension aufheben.“ Natürlich ist diese absolute Freiheit ohne den Blick der anderen unerreichbar, weshalb Sartre resümiert: „So verwandelt sich der Triumph des Hasses schon bei seinem Auftauchen in Scheitern.“ Der Hassende hat immer schon verloren, sein Sieg ist eine Niederlage. Was der Hass maximal erreichen kann, ist die Anerkennung durch Gegenhass: „Der Hass verlangt, gehasst zu werden, insofern den Hass hassen einer besorgten Anerkennung der Freiheit des Hassenden gleichkommt.“ Sollte Anders Behring Breivik, was anhand dieser beiden Texte zu überprüfen wäre, tatsächlich von Hass getrieben sein, dann bekämen Sartres Sätze unverhofft einen tröstenden Sinn. Dem Hass kann die Anerkennung verweigert werden.
■ Der Autor ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Grünen-Bundestagsfraktion und freier Publizist in Berlin