WANN PLATZT DIE KOALITION? : Rücktritt aus Selbstachtung
Welches Kalkül hinter der Neuwahlstrategie der SPD steckt, hat gestern keiner so deutlich formuliert wie einer ihrer Urheber, der einflussreiche Mainzer Ministerpräsident Kurt Beck. „Es wird nicht um Rot-Grün gehen, sondern um die SPD“, erklärte er in einem Interview. Das heißt: Die Kanzlerpartei hat die Notbremse gezogen, weil sie die rot-grüne Koalition für gescheitert hält.
Aus Sicht der Sozialdemokraten ist das eine einleuchtende, wenn auch riskante Strategie. Weniger verständlich ist, warum sich der grüne Koalitionspartner widerstandslos zur Schlachtbank führen lässt. Im Falle des Bundesaußenministers, der als einziger Grüner angeblich schon früh über die SPD-Pläne informiert war, ist die Frage vielleicht noch einfach zu beantworten. Durch die Visa-Affäre bereits angeschlagen und doch mit dem maßlosen Ego der altlinken Politikerkaste ausgestattet, wird ihm der Gedanke an einen pompösen Abgang gemeinsam mit Gerd durchaus zugesagt haben.
Für alle anderen Grünen gelten diese Argumente nicht. Und doch gehorchen sie nach der längst eingeübten Logik des kleineren Übels dem Machtwort ihres Übervaters. So wollen sie allen Ernstes vier Monate lang Wahlkampf für eine Koalition machen, die es seit Sonntag nicht mehr gibt und die allem Anschein nach in diesem Land kaum noch jemand will. Sie klammern sich an die winzige Hoffnung, dass es im Herbst doch noch eine hauchdünne arithmetische Mehrheit für Rot-Grün geben wird. „Algebra geht vor Gesinnung“, erläuterte Umweltminister Jürgen Trittin mit dem Zynismus einer Macht, über die er schon gar nicht mehr verfügt.
Wenn die grünen Minister noch über einen Funken Selbstachtung verfügen, dann sollten sie umgehend zurücktreten und den Wahlkampf aus der Opposition heraus bestreiten. So hat es selbst die stets opportunistische FDP in den zwei Wochen gemacht, die 1982 zwischen Koalitionsbruch und Kanzlerwahl vergingen. Gewiss: Damals wechselte der kleinere Koalitionspartner in eine andere Regierung, diesmal nur in die Opposition. Aber dass es die Koalition nicht mehr gibt, daran kann seit den Äußerungen von gestern kein Zweifel mehr bestehen. RALPH BOLLMANN