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Vorwärts geht's gewiß

Privilegierte Einblicke. Ein Reisebericht aus China  ■ Von Doris Lessing

Enthüllungen über die Bedingungen in den Lagern des chinesischen Gulag, wie sie kürzlich von einem ehemaligen Gefangenen bekanntgemacht wurden, lassen Eindrücke privilegierter Besucher nahezu frivol erscheinen. Und dennoch: Was wir vorfanden, war zumindest unerwartet und ein Beweis für Chinas Fähigkeit zum Wandel.

Michael Holroyd, Margaret Drabble und ich waren für den British Council nach China gefahren und dort zwei Wochen lang Gäste der wichtigsten Schriftstellerorganisation gewesen. Jedem von uns war unabhängig voneinander erzählt worden, daß uns der Anblick einer Bevölkerung erwarte, die uns mit düsteren Gesichtern und ohne ein Lächeln anstarren würde, stumm, weil jeder Angst davor hat, mit Ausländern zu sprechen. Außerdem würden sie ständig irgendwo hinspucken. Ein amerikanischer Journalist, der bis vor drei Jahren fünf Jahre lang in Peking gearbeitet hatte, bestätigte das: die Menschen hätten soviel Angst davor, auf sich aufmerksam zu machen, daß sogar der Klang der Fahrradklingeln gedämpft wäre.

Wir waren in Peking, Shanghai, Shian und Kanton (heute Guangdong); alle vier Städte waren voll mit Touristen aus Europa, mehr noch jedoch aus Japan, Südkorea und anderen Nachbarländern. Wir trafen auf lächelnde und sogar lachende, selbstbewußte und freundliche Menschen, die weder spuckten noch uns anstarrten und überhaupt, soweit es uns Ausländer betraf, vor allem darauf aus waren, uns zu helfen und uns Geld aus der Tasche zu ziehen, oder es wenigstens zu lernen. Die Universitätsstudenten waren über britische und amerikanische Literatur mindestens so gut informiert wie ihre amerikanischen Kommilitonen.

China ist ein Land im Aufschwung, fest entschlossen, sich zu verbessern, voller Energie, Selbstbewußtsein und Kompetenz. Wir sahen nicht einen Betrunkenen. Jede Stadt begrüßt den Besucher mit Slogans wie „China heißt Sie willkommen mit zweihundert Millionen Lächeln“. Und was die Angst angeht: jeder spricht frei über alles mögliche, besonders über die Kulturrevolution; wir trafen kaum jemanden, der unter ihr nicht gelitten hatte. Die Euphorie ist so groß, daß jeder selbstbewußt erklärt, es gebe keine Armut in China (vielleicht in der Hoffnung, daß es bald keine mehr geben wird). Wenn man in den kleinen Nebenstraßen Shanghais und Pekings spazierengeht, sieht man jedoch in kahle Zimmer, in denen eine ganze Familie sich unter einer nackten Glühbirne nachts zur Ruhe legt. Der Graben zwischen Arm und Reich wird tiefer.

Die informativste Begegnung hatte ich mit Redakteuren und Schriftstellern, die alle Mitte dreißig bis Mitte vierzig sind. Ich hatte diese Gruppe auf ihren Vorschlag hin persönlich und ohne Schwierigkeiten zusammengestellt, was alle erstaunte, die China nur vor dem letzten Umschwung kannten. Wir trafen uns ganz öffentlich in einem „Freundschafts“-Restaurant. Als ich sagte, daß Chinas politische Umschwünge die Außenwelt immer als hundertprozentige Kehrtwendungen erreichten und damit meinte, daß dies gerade wieder ein Umschwung in Richtung Liberalismus sei, und als ich sie dann fragte, wie es käme, daß sie keine Angst davor hätten, daß ihre offene Kritik von heute nicht morgen schon gegen sie verwendet werden würde, fragten sie: „Welcher Liberalismus?“ Sie jedenfalls hatten von der chinesischen Glasnost mehr erwartet.

Sie erzählten mir vom Roman eines Freundes, der sich mit den Bedingungen in der chinesischen Armee beschäftigt, die keinen Deut besser seien als die in der alten Sowjetarmee, sprich: Soldaten kommen nur durch kleine Tauschgeschäfte an ausreichendes Essen heran und werden routinemäßig von ihren Offizieren mißhandelt, ohne je Beschwerde einlegen zu können. Dieser Roman also sei vom Zensor zurückgewiesen worden mit dem Slogan (jede Direktive und Entscheidung bindet sich an einen Slogan): „Nicht jeder Schriftsteller muß veröffentlicht werden, nicht jedes Buch gedruckt.“

Kontroverse Bücher werden jedoch durchaus gedruckt: Jung Changs „Wilde Schwäne“, im Ausland längst in vielen Übersetzungen erschienen, soll in Kürze erscheinen. Ein Schriftsteller der Demokratie-Bewegung, Idol der Jugend, hat das literarische Establishment mit seinen respektlosen, rüden Geschichten und Gedichten in höchstem Maße irritiert – aber sie müssen ihn akzeptieren, weil er populär ist. Er ist weder verboten noch zensiert worden. Kurz: Die Dinge sind im Fluß. Romane und Kurzgeschichten über die Kulturrevolution werden massenhaft gedruckt. Und tatsächlich trafen wir kaum jemanden, der unter der Kulturrevolution nicht gelitten hatte, selbst wer höchste Posten innegehabt hatte, wie beispielsweise der frühere Kulturminister Wang Meng.

Bei unserem privaten Treffen im „Freundschafts“-Restaurant erzählte jeder einzelne, was ihm in dieser Zeit passiert war. Auf die Frage, was er heute über die Denunziationen und Folter denke, die er im Gefängnis erlitten hatte, erwiderte einer von ihnen, daß die Opfer zu anderen Zeiten selbst die Täter seien.

An die Kulturrevolution denkt man bei uns als an einen Krieg, der sich gegen die Menschen richtete. Aber die jungen Bilderstürmer zerstörten auch Gärten und Haine, Maulbeerbäume und Seidenstoffe, Tempel und Schreine. In einem kleinen traditionellen Hinterhof in Peking sind die Köpfe aller Steinlöwen, die vor den Eingängen Wache stehen, abgeschlagen worden. Dieses Bedürfnis nach Zerstörung muß schon die Soldaten Dschingis Khans bewegt haben, die alles vernichteten, was sich den Mustern in ihren Köpfen nicht fügte. Wenn man mit diesen lebhaften, vernünftigen, pragmatischen und witzigen Menschen zusammensitzt, ist es schwer, sich daran zu erinnern, daß dieselben Leute, und man selbst und die eigenen Freunde, bis vor nicht allzu langer Zeit selbst an diesem Wahnsinn teilgenommen haben. Und daß auf ein Wort des Vorsitzenden Mao hin die ganze Bevölkerung bereit gewesen war, stunden- und tagelang auf Töpfe zu schlagen, damit sich nirgends ein Vogel niedersetze, bis die erschöpften Kreaturen schließlich tot vom Himmel fielen oder so schwach waren, daß man sie leicht erschlagen konnte, zu Hunderttausenden und Milliarden.

Vögel waren als Ungeziefer klassifiziert worden. Und ich bin nicht eine von denen, die glauben, daß „so etwas bei uns nie passieren könnte“. In China sind so wenige Vögel übriggeblieben, daß sich mir, als ich ein Adlerpaar aus den Hügeln hinter Hongkong niederschweben und über den Wolkenkratzern der Stadt fliegen sah, plötzlich eine Niedergeschlagenheit löste, von der ich nicht einmal wußte, daß sie dagewesen war: die Abwesenheit der Vögel, des Vogelgesangs, hatte sich schwer auf mich gelegt. China ist kein einfaches Land für Tierfreunde.

Zwei Phänomene, beide vieldiskutiert, zeigen Gefahren für das Land an. Das eine ist die Tatsache, daß hundert Millionen Menschen durch die Mechanisierung der Landwirtschaft vom Land verdrängt werden; sie alle sind unterwegs. Was sind schon hundert Millionen, scheinen einem die Gesprächspartner bedeuten zu wollen, die man hierzu befragt; man wird sie schon absorbieren. Diese neu Vertriebenen ernähren sich durch Gelegenheitsarbeiten, Diebstahl, Kleinhändlerei oder schließen sich, nach altbewährtem Modell, kriminellen Banden an. Außerdem können sie, so heißt es, immer in ihre Dörfer zurückgehen, in denen man sich um sie kümmern wird. Aber wie lange werden die Dorfleute diese Menschen noch als ihre Verantwortlichkeit empfinden, wenn sie nichts mehr zur Gemeinschaft beitragen? Auf einem Landwirtschaftsbetrieb nahe Guangdong (die Stadt ist eine einzige riesige Baustelle und der Verkehr so entsetzlich, daß wir für die knapp 20 Kilometer zweieinhalb Stunden brauchten) erzählte man uns, daß noch vor zehn Jahren mehrere hundert Dorfbewohner dort gearbeitet haben; jetzt wirtschaften dort noch ganze 15 Menschen. Die anderen arbeiten als Lohnarbeiter auf dem Bau. Und das ist eine so gewaltige Revolution traditioneller Strukturen in China, daß demgegenüber alle früheren Revolutionen wie kleinere Aufstände wirken. In diesem Dorf zeigte man uns auch ganz stolz den Lautsprecher, aus dem bis vor nicht allzu langer Zeit noch Parteidirektiven kamen oder ununterbrochen laute Marschmusik dröhnte. Jetzt aber schweigt er.

Das andere Phänomen, über das jeder hier spricht, ist das „Kleine-Kaiser-Syndrom“. Das Gesetz, daß jedes Paar nur ein Kind haben darf, ist in den Städten mehr oder weniger – manchmal mit brutalem Druck – durchgesetzt worden. Überall sieht man wunderschöne Babies und Kleinkinder, jedes einzelne umgeben von hingerissenen, aufmerksamen Erwachsenen. Jeder ist ein kleiner Kaiser (oder eine Kaiserin, aber davon scheint es weniger zu geben), der von allem nur das beste kriegt, von der Liebe bis zur Ausbildung. Auf dem Lande jedoch ist es nicht so einfach, dieses Gesetz durchzudrücken, und deshalb gibt es viele Bauern – an Zahlen kommt man nicht –, die drei oder vier Kinder haben. Und diese Kinder haben keine oder nur eine minimale Ausbildung zu erwarten. Das heißt, sie werden arm bleiben. Es sei denn, China beschließt, ihnen Ausbildung und die Mittel zur Ernährung zu geben – was jedoch wiederum die Revision einer Politik wäre, die man weiterhin für absolut unabdingbar hält: die Beschränkung des Bevölkerungswachstums.

So werden also wieder einmal, wie auch zuvor in Chinas Geschichte, unwissende und arme Bauern einer privilegierten Stadtbevölkerung gegenüberstehen, den wohlgenährten und gebildeten kleinen Kaisern ihrer Generation.

In die wirklich armen Gebiete Chinas kamen wir nicht. Unsere Mentorin und Führerin, ein ungewöhnlich hübsches Mädchen, das viermal soviel aß wie wir, wohl um vergangene Zeiten des Mangels wettzumachen, sagte uns im Brustton der Überzeugung, es gäbe keine armen Gegenden und keine armen Bauern. Daß es eine Kontroverse über Tibet gab, wohin sie zusammen mit Freunden in die Ferien fahren wollte, wußte sie nicht. Dennoch war sie gebildet und bewies mit dem gekonnten Herabschnurren aller chinesischen Dynastien von den Anfängen vor Christi, und mit Konfuziuszitaten versehen, das Faktum einer revidierten Bildungspolitik. Bis vor kurzem hatte der Geschichtsunterricht in den Schulen noch mit dem Kommunismus begonnen, die imperiale Vergangenheit hatte man ignoriert.

Dieses Mädchen ist ein Apparatschik derselben Art, wie es sie in der Sowjetunion immer gegeben hat. Ihre Familie ist arm. Auf die Frage, ob auch sie unter der Kulturrevolution gelitten hätten, antwortete das Mädchen: „Nein, dazu waren wir nicht wichtig genug.“ Ich fragte sie, ob es viele Mädchen wie sie gäbe, die, von ärmlicher Herkunft, eine bestmögliche Bildung und Ausbildung genossen hätten. Ja, sagte sie, sehr viele, und sie war offenbar erstaunt, daß wir so etwas fragen konnten.

Es schien mir auf dieser Reise – und scheint mir auch jetzt noch – besonders erstaunlich, daß Gespräche, die wir so einfach und auf allen Ebenen führen konnten, noch vor fünf Jahren, weniger sogar, für unsere Gesprächspartner Gefängnis, Folter oder gar den Tod bedeutet hätten. Beim Mittagessen mit höchsten Funktionären der Schriftstellervereinigung war es möglich zu fragen, was sie von dem Brief Mao Tse-tungs an André Malraux hielten, in dem er geschrieben hatte, daß 50 Kilometer außerhalb der großen Städte sich für die Bauern nichts geändert habe. Das sei nicht wahr, kam die Antwort, und Mao sei alt, krank und enttäuscht gewesen. Mancher sagte sogar ganz leichthin, Mao sei eben verrückt gewesen.

Ist es möglich, daß diese klugen Leute sich nicht daran erinnern können, wie oft sich in den letzten 45 Jahren die Linie der Partei geändert hat? Sind sie wirklich so sicher, daß sie nicht wieder geändert werden kann? Haben sie so lange unterdrücken müssen, was sie wirklich dachten, daß der Genuß, alles auszusprechen, einfach unwiderstehlich geworden ist?

Aber der Lautsprecher auf dem Dach des Gemeindesaals in jenem Dorf ist nicht abmontiert, er ist bloß abgeschaltet worden.

China erinnert mich an einen großen, klobigen Bauernkarren, dem man einen modernen Motor eingebaut hat und der jetzt hundert Kilometer in der Stunde fährt statt zehn. Vorwärts geht's gewiß, aber das Zerren und Drücken mag, oder muß sogar, den Karren immer wieder verlangsamen oder sogar seine Richtung auf unerwartete Art und Weise ändern.

Chinas Wachstum wird die ganze Welt berühren. Man muß hoffen, daß seine Vorliebe zur Reduzierung von allem und jedem auf simple und simplizistische Formeln nicht ansteckt. Der Erfolg des „politischen Korrektseins“ läßt uns ahnen, daß wir uns da gar nicht so sicher sein dürfen.

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