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Archiv-Artikel

Vorsicht, Eilmeldung!

Vom Nadeldrucker zum Redaktionssystem: Nur Fortschritte im Journalismus?

„Manche Eilmeldungen sind schlicht und einfach verzichtbar“

WOLFGANG ZÜGEL, NACHRICHTENREDAKTEUR VON WELT-ONLINE

VON PETER LEBRUN UND VANESSA WEISS

Das Jahr 1982, 14.59 Uhr, eine Berliner Zeitungsredaktion. In einem abgeschotteten Raum sitzt ein Mann Anfang 30, umzingelt von sechs lärmenden Maschinen, die sein Fenster zur Welt sind. Hier laufen ständig die Meldungen der Nachrichtenagenturen AFP und AP ein. Nadeldrucker übersetzen das Nachrichten in rhythmische Tickergeräusche. Die ausgedruckten Abrisse verteilt der Redakteur Wolfgang Zügel an die entsprechenden Ressorts. Passiert irgendwo auf der Welt etwas Relevantes, mutiert das Ticken zu einem fast ohrenbetäubenden Glockenton: Eilmeldung!

Wolfgang Zügel, mittlerweile 60 Jahre alt, übernahm während seiner Zeit in der taz-Nachrichtenredaktion (1980 bis 1991) häufiger den Platz am Nadeldrucker, dem sogenannten Ticker. Als „mühselig“ beschreibt er die Arbeit mit dem Gerät. Denn „eigentlich waren Eilmeldungen damals eher so etwas wie ein Weckruf für Redakteur_innen. Schließlich hat man das Klingeln auch noch zwei Räume weiter gehört.“ Aus diesem Grund bemisst der gelernte Volkswirt Eilmeldungen eher eine geringe Bedeutung bei: „Ich wüsste jetzt nicht, dass ich da irgendwann die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen hätte.“

Schaut man ins Archiv oder sucht bei Onlinemedien oder Nachrichtensendern nach Eilmeldungen, dann zeigt sich, dass ihr Ausstoß stark angestiegen ist. Während zwischen 1997 und 1998 noch 3.290 Meldungen mit den Prioritätsstufen eins bis zwei von den Nachrichtenagenturen abgesetzt wurden, steigt diese Zahl von 2000 bis 2001 auf 4.051 Meldungen. Zwischen 2006 und 2007 sind es bereits 4.409 Meldungen. Zwei Jahre später sind es schließlich 5.961 Eilmeldungen.

Diese Entwicklung erklärt sich vor allem durch neue, schnellere Technologien. Als die taz beispielsweise Anfang der 90er Jahre die Nadeldrucker gegen ein computerbasiertes Redaktionssystem eintauschte, wurde es – so unspektakulär es heute klingt – erstmals möglich, Texte per Tastendruck zu kopieren und andernorts einzufügen. Das hohe Nachrichtenaufkommen und der Wettbewerb zwingen vor allem Onlinemedien dazu, Agenturmeldungen im Wortlaut zu übernehmen. Das ist die Geburtsstunde des Copy-&-Paste-Journalismus. Man könnte sagen: Genauso wie Währungen sind auch Informationen zu einem inflationären Gut geworden. Die Menge steigt, ihr Wert sinkt. Schnelligkeit und Masse sind en vogue. Allein die Nutzer_innen des Microblogging-Dienstes Twitter setzen pro Tag rund 50 Millionen Kurznachrichten und mehr als eine Milliarde Suchanfragen über das Netzwerk ab.

So sind es vor allem Nachrichten, die vermeintlich „nah am Leser“ sind, die immer häufiger als Eilmeldungen abgesetzt werden. Dabei übersteigt ihr Unterhaltungswert ihre nachrichtliche Relevanz. Ein Beispiel ist der Prozess des Wettermoderators Jörg Kachelmann. Seine Entlassung aus der Untersuchungshaft verfolgen sämtliche private wie auch öffentlich-rechtliche Sendeanstalten. Auch den Agenturen DPA und DAPD war diese Geschichte eine Eilmeldung wert. Der Nachrichtenredakteur Wolfgang Zügel meint sogar, dass die Eilmeldung mittlerweile zu einem Verkaufsargument geworden ist. Er begründet das damit, dass so „eine höhere Aufmerksamkeit erzielt und das Publikum stärker an ein Medium gebunden wird“. Er kommt zu dem Schluss: „Dadurch verlagert sich das Gewicht in der Berichterstattung.“

Die Überflutung mit irrelevanten Nachrichten verlangt mittlerweile auch vom Publikum eine Auswahl und Filterung. Eine Aufgabe, die neben den klassischen Medien wie Tageszeitungen oder Radiosendern vor allem soziale Medien und Web-Dienste übernehmen.

Auch die Medien wollen die Nutzer sozialer Netzwerke ansprechen. Denn auf Seiten wie der von Facebook werden die Inhalte dieser Medienhäuser verlinkt. Das verschafft ihnen neue Leser_innen. Und so verändern sich die Kriterien, nach denen Journalist_innen aus einer Meldung eine Eilmeldung machen. Es geht nicht mehr nur um Nachrichtenrelevanz. Auch die Nutzer bestimmen mit, was für sie wichtig ist. Das verändert auch die Kriterien der Redakteure. Wolfgang Zügel meint: „Manche Eilmeldungen sind schlicht und einfach verzichtbar.“