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■ VorschlagGanz Berlin macht auf Frühling. Da klink sich mal einer aus!

Vorschlag

Das Dümmste am Frühling ist der Erlebniszwang. Für den Bücherlesenden, der am Erleben prinzipiell eher weniger interessiert ist, ist das ein echtes Problem. „Zu Hause, bei dem Wetter?“ fragt zum Beispiel die oft so schön frühlingshaft gestimmte Redakteurin, die bei mir um einen Frühlingsartikel nachsucht. Man kann dann wohl etwas von „Balkon“, „gerade nach Hause gekommen und schon wieder auf dem Sprung“ und „drohenden Kumuluswolken“ murmeln. Es hilft nichts: Man ist ein Sonnenfeind und undankbar gegen den wunderbaren Tag.

Gerade der täglich ans Büro gefesselte Mitbürger reagiert gereizt bis empört, wenn er erfährt, daß der studentisch Tändelnde den Sonnentag nicht adäquat zu nutzen weiß. Oder Sandra, unsere freundliche WG-Besucherin aus Essen, die den Tag in Ku'damm-Cafés verbracht hat und mich beim Fortgehen wie beim Wiederkommen konzentriert am Schreibtisch findet: „Wat denn? Den ganzen Tach drinhocken? Mann, Junge – frische Luft!“ Ja ja, sie allen haben ja ganz recht.

Es ist nicht leicht, dem Frühlingsdrang zu opponieren. Das ist so ein Megagemeinschaftsding, schlimmer noch als Fußballweltmeisterschaften und Weihnachten. Da kann man ja immer noch eine irgendwie geachtete und legitime Pseudo-Oppositionshaltung einnehmen. Beim Frühling ist das anders. Alle sind aufgedreht, verlieben sich wie wild, machen Urlaubs-, ja sogar Lebenspläne und sind ganz komisch hoffnungsfroh. Da klink sich mal einer aus!

Das Schlimme ist: Er wohnt ja in dir selbst, der Frühlingszwang, der Frühlingsdrang. Aus frühester Kindheit muß das kommen: Postnatale Erinnerungsfetzen an zwanghafte sonntagmorgendliche Frühlings-Odenwald-Ausflüge, Frühlings-Altrhein-Wanderungen, Frühlings-Bergstraßenschlösser-Besichtigungen und ständige Aufgeregtheiten wie: „Die Sonne, die Sonne, schnell, schnell, sie geht schon wieder unter, wer weiß, wie's morgen wird, die Fernsicht ist so gut, das ist ein schlechtes Zeichen...“

Da wurde man zum persönlichen Frühlingserleben noch weniger subtil und untergründig vorwurfsvoll genötigt. Aber ich bleibe hart, diesen Frühling bleibe ich hart. Ich werde nichts erleben! Wie sagt der zurückhaltende Schriftsteller Windisch in „Rossini“, als ihn die italienische Kellnerin zu entkleiden trachtet und er um seine Ruhe fürchtet, besorgt und um Verständnis flehend: „Scrivo, non vivo!“ Besonders im Frühling will das irgendwie niemand verstehen. Volker Weidermann

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