■ Vorschlag: Sehen, beobachten, festhalten: Der Kunsthistoriker Jonathan Crary
„Das ist offensichtlich“ sagt man, wenn man ausdrücken will, daß etwas klar und zweifelsfrei feststellbar ist. Doch ist unser Blick wirklich so unbestechlich und über jeden Zweifel erhaben, wie dieser Ausdruck es nahelegt? Der amerikanische Kunsthistoriker Jonathan Crary, der heute in Potsdam und morgen in Berlin einen Vortrag über die Aufmerksamkeit in der Moderne hält, beschäftigt sich mit der Beziehung zwischen Technologie, Kultur und dem menschlichen Blick. Wer sein sensationelles Buch „Techniques of the Observer“ gelesen hat, ist sich danach nicht mehr so sicher, ob das Sehen wirklich so objektiv und autonom ist, wie es „auf den ersten Blick“ „ersichtlich“ scheint.
Für Crary, Professor an der Columbia University in New York und Mitbegründer der interdisziplinären Schriftenreihe „Zone Blocks“, sind menschliche Wahrnehmung und Subjektivität Effekte von technologischen, sozialen und kulturellen Dispositiven. Technologische oder soziale Veränderungen rufen Veränderungen der Wahrnehmung hervor, die auch in der Kunst reflektiert werden. Schon der deutsche Kunsthistoriker Erwin Panofsky hat die Perspektive der Renaissance-Kunst als eine „symbolische Form“ analysiert. Crary beschreibt in „Techniques of the Observer“ den Zusammenbruch dieser kulturell geprägten Wahrnehmungsweise, die im 19. Jahrhundert von den neuen Medien Fotografie und Film und von optischen Spielzeugen wie den Stereoskopen ausgelöst wurde. Gleichzeitig analysiert er, wie die Kunst das Ende des „Camera Obscura“-Modells des Sehens reflektiert hat.
Der Vortrag, den Crary in Potsdam und Berlin hält, trägt den Titel „Attention, Spectacle and Modern Culture“. In ihm geht es – wie in seinem nächsten Buch, das in Kürze in den USA erscheinen wird – um das Phänomen der Aufmerksamkeit, das nach Crary am Ende des 19. Jahrhunderts zu einem zentralen Problem der Psychologie, Philosophie und Kunsttheorie wurde. Tilman Baumgärtel
Jonathan Crary, heute um 19 Uhr im Einstein Forum in Potsdam, morgen, 19 Uhr, Hochschule der Künste Berlin, FB Bildende Kunst, Grunewaldstraße 4/5. Englisch.
Eine Koalition, die was bewegt: taz.de und ihre Leser:innen
Unsere Community ermöglicht den freien Zugang für alle. Dies unterscheidet uns von anderen Nachrichtenseiten. Wir begreifen Journalismus nicht nur als Produkt, sondern auch als öffentliches Gut. Unsere Artikel sollen möglichst vielen Menschen zugutekommen. Mit unserer Berichterstattung versuchen wir das zu tun, was wir können: guten, engagierten Journalismus. Alle Schwerpunkte, Berichte und Hintergründe stellen wir dabei frei zur Verfügung, ohne Paywall. Gerade jetzt müssen Einordnungen und Informationen allen zugänglich sein. Was uns noch unterscheidet: Unsere Leser:innen. Sie müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Es wäre ein schönes Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen