■ Vorschlag: Zauber des Augenblicks - Rene Burri bei argus fotokunst
Seit einem Jahr besteht die von Dokumentarfilmer Norbert Bunge geleitete Galerie argus fotokunst. Zum Jubiläum gelang es, den in Paris lebenden Schweizer René Burri (geb. 1933) zu gewinnen, der seit 1982 Präsident der legendären Magnum-Agentur ist. Bekannte Namen neu zu präsentieren – vor allem, wenn sie einen Bezug zu Berlin haben – gehört genauso zum Galeriekonzept, wie das Lebenswerk wenig beachteter FotografInnen vorzustellen oder Neuentdeckungen zu machen.
Zwei kleine Räume öffnen den Blick auf eine dem Journalismus entwachsende Dokumentarfotografie, die nach dem Stand der Dinge und den Beziehungen der Menschen sucht. Was auf amüsante Weise auch immer wieder zu Irritationen führt. So bei René Burri. Ein Rezensent meinte, im Soldaten aus dem Theater am Schiffbauerdamm einen beaufsichtigenden Vopo zu erkennen. Doch es ist ein Schauspieler in deutscher Wehrmachtsuniform, der während einer Spielpause im Aufenthaltsraum sitzt. Die Aufnahme leitet eine Serie von Berlin-Fotos ein, entstanden Ende der fünfziger, Anfang der sechziger Jahre. Mit anderen veröffentlichte sie Burri 1962 als Buch unter dem Titel „Die Deutschen“.
Alltagssituationen aus Ost wie West. Hier Mann und Frau bei der Messe am Funkturm, Rücken an Rücken sitzend, Eiscreme essend; dort ein vereinzelt tanzendes Paar im VEB-Vereinslokal. Einerseits Bilder vom Vergnügen, wie Autoscooter im Lunapark, halbnackte Halbstarke mit Kofferradio am Wannsee, Party bei Kerzenlicht mit 100-Mark-Schein als Wandschmuck; andererseits rollende US-Panzer auf der Yorckstraße, Parade am Treptower Ehrenmal und Winkende an der Bernauer Straße – nach dem Mauerbau; dazu Nachkriegsidylle in Form eines blumentopfumrankten Fensters.
Es ist der besondere Blickwinkel und der Sinn für versteckte symbolische Gesten, der diese Aufnahmen auszeichnet. Schon die Fotos des jugendlichen Burri von Pariser Straßenszenen (1950) zeigen das untrügliche Gespür für den Zauber des Augenblicks. So hat er auch das Kuba nach der Revolution aufgenommen, mit Ballett, Kartenspiel und politischer Ansprache. Burri sieht Prominente als Zeitgenossen, ohne verschleiernde Aura, gleich ob Picasso, Le Corbusier, Giacometti oder Castro und Mitterrand im Gespräch. Schön anzuschauen der melancholisch am Dachfenster stehenden Uwe Johnson oder Günter Grass mit Geweih posierend. Womit wir wieder im Berlin der sechziger Jahre sind. Michael Nungesser
Galerie argus fotokunst, Norbert Bunge, Mitte, Marienstraße 25; bis 6. Juli, Mi.–So. 14–18 Uhr.
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