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■ Vorschlag"Auf Meer gebaut" - Robin Anne Stahmers Multimediaprojekt im Ballhaus Naunynstraße

Oft genug hat man in Säuferdramen den Kampf gegen den schicksalhaft fortschreitenden sozialen, seelischen und körperlichen Verfall verfolgt und doch das Wesen des Alkoholismus nicht begriffen. Denn jede Etappe einer Trinkerkarriere besteht aus unzähligen Tagen und Abenden, die in einer unumstößlichen Mechanik zur Volltrunkenheit führen.

Robin Anne Stahmers multimediales Tanztheater „Auf Meer gebaut“ setzt eine ästhetisch riskante Mixtur aus Tanz, Schauspiel, Musik und Film ein, um den alltäglich-allabendlichen Strudel in den Rausch aus der Perspektive der Betroffenen zu vermitteln.

Der Zuschauer sitzt auf Barhockern inmitten eines surrealistischen Kneipenarrangements, das von den Musikern (Schlagzeug, Klavier/Saxophon und Geige) angeleitet wird. Drei exemplarische Alkoholikerinnen treten aus ihren durch Einsamkeit und Ängste zugrunde gegangenen Privatheiten hervor an die Orte der Geselligkeit und des Wohlbefindens. Jedes erste Glas hat seine Vorgeschichte, jeder Rausch seine eigene Ursache: die Verzweiflung über die unrettbare Beziehung, der Wunsch, in der Musik einen Ersatz für Gemeinschaft zu finden, oder der Horror vor der eigenen Körperlichkeit. Während man sonst lieber wegschaut, beobachtet man hier, wie im Aufbau des Rausches Enthemmung, Ekstase und Kollaps einander folgen. Filmprojektionen ergänzen die in den Text eingestreuten Hinweise auf dionysische Kulte.

Der alkoholisierte Zustand wird bis zur Peinlichkeit und irritierend real abgebildet. Was während der fast anderthalb Stunden dauernden Aufführung zunächst provozierend langsam und leer, dann durch die Gleichzeitigkeit der Ereignisse konfus wirkt, folgt dabei einer ausgefeilten Komposition, die abrupt den Wechsel von Erstarrung und manischer Lustigkeit nachformt, in dem Alkoholsüchtige gefangen sind.

Während die Texte und das Schauspiel roh und real wirken wie in einem Dokumentarfilm, entfaltet sich die Musik freier. Mit Splitterklängen zeichnet sie die Seelenqualen nach, die den einzelnen Episoden des Versackens vorausgehen, erzeugt mit Softjazz und Rockrhythmen das umsatzfördernde Ambiente und bietet sich diabolisch als Begleiter in den Vollrausch an. Statt eines Theaterstücks erlebt man vielmehr ein Environment auf der Bühne, in dem Frauen ihre Kontrolle über sich verlieren. Robin Stahmer und ihrer Gruppe gelingt es bei aller Sperrigkeit des Konzepts, den Zuschauer in das beklemmende Kontinuum schwankender Wahrnehmung hineinzuziehen und mit ihrem virtuos multimedialen Stil ein aus dem Alltag fast verdrängtes Problem neu zu beleuchten. M. R. Entreß

Heute, 20 Uhr, im Ballhaus Naunynstraße 27, Kreuzberg. Außerdem am 24.9., 20 Uhr, im Probenhaus Mitte, Koppenplatz 3–4;

am 2./3./9./10./16./17. Oktober, 20 Uhr, im Jojo, Torstraße 216;

am 18./19./24.–26. Oktober, 20 Uhr, im Kulturhaus Spandau

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