■ Vorschlag: Das neue Bild Prags: Ságl und Kucera im Tschechischen Zentrum
1996 bekam der Fotograf Jan Ságl vom Prager Magistrat den Auftrag, die Veränderungen der Stadt ein Jahr lang zu dokumentieren. Er entschied sich für die neue Architektur als Gradmesser des Wandels. Seine Meinung zur heutigen Architektur Prags ist bezeichnend: „Zweckmäßig“ nennt er sie kurz. In Ságls Bildern dominiert kühles Blau: Stahl und Glas prägen auch das neue Bauen in Prag. Diese Architektur bricht bewußt mit dem bekannten Bild Prags als lebendigem Museum der Jahrhundertwende. Das bekannte Bild Prags kommt in Ságls Bildern nur als isoliertes Randzitat vor: als anachronistisches Traggerüst für eine Dachkonstruktion, die anmutet wie Darth Vaders Gesichtsmaske. Oder verschwommen als fragmentierte Spiegelung in einer glasharten Fassade: Phantome einer verschwindenden Epoche.
Das neue Bild Prags gleicht dem Bild, das viele europäische Metropolen zur Zeit entwickeln. Innen Design der Siebziger, aufgepeppt als Chic der Neunziger. Außen abweisende Geschlossenheit, kühle Professionalität. Ságls Perspektive des International Business Centre erinnert an das Chilehaus in Hamburg, allerdings ohne dessen backsteinrote hanseatische Gemütlichkeit. Die Fassade des IBC ist glatt, abweisend. Ein Antlitz wie mit Sonnenbrillen geschützt: Der Blick des Betrachters rutscht ab und wird zurückgeworfen. Dieses Prag, menschenleer, gibt nichts mehr preis. Der Wandel scheint vollzogen.
Als Kontrastprogramm zeichnet Jaroslav Kucera in seinen Schwarzweißfotografien ein anderes Prag-Bild. Weder hermetische Geschlossenheit noch farbenfrohe Stilisierung sind sein Thema. Im Zentrum seiner Fotografien leben Menschen; Menschen auf Prager Straßen. Auch Kucera – ausgestattet mit dem Auftrag, Prag während eines Jahres fotografisch zu begleiten – wählte sich Randexistenzen als Motive für die Veränderung der Stadt: „Auch so ist Prag“ ist seine Ausstellung betitelt. Bettler und Punks, Stricher und Obdachlose fand er vor, aber auch Rikschafahrer und russische Artisten, die nun in Prag als Touristenattraktion ihr Geld verdienen. Architektur kommt bei Kucera nur in Form der Begrenzung des öffentlichen Raumes vor, in dem sich die Individuen bewegen. Das Stadtbild verwandelt sich auch hier. Repräsentative Fassaden erhalten konkrete Aufgaben. Ein Bahnhof ist hier keine Kulisse, sondern einfach eine Wohnung. Trotzdem bleiben Kuceras Aufnahmen seltsam distanziert. Die Vertrautheit des Fotografen mit den fotografierten Personen, die die Begleittexte andeuten, lösen seine Bilder nicht ein. Im Gegenteil: Oft vermitteln sie die Unentschlossenheit des Fotografen, mit seinen Motiven umzugehen, und errichten so eine Barriere zwischen Betrachter und Betrachteten. Die Mehrzahl von Kuceras Fotos verharrt irgendwo zwischen zufälliger Straßenszene und Porträtversuch.
Doch Fotografie ist nicht Realität, die Wirklichkeit lauert hinter den Abbildungen. Im obersten Stock von Jan Ságls Lieblingsmotiv, dem „Tanzenden Haus“ von Frank Gehry, soll sich Prags teuerstes Restaurant befinden, während einer von Kuceras Obdachlosen im Winter auf der Straße erfroren ist. So transportieren beide Fotografen auf ihre Weise Bruchstücke vom disparaten Leben im Prag der Neunziger. Holger Zimmer
Bis 14.8., im Tschechischen Zentrum Berlin, Leipziger Straße 60
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen