Vorschläge gegen Bildungsarmut: Pisa-Chef prügelt Kultusminister
Nach dem internationalen wechselt jetzt auch der deutsche Mister Pisa ins Lager der Kritiker der Kultusminister und fordert entschiedene Maßnahmen gegen Bildungsarmut.
Er hat zu ihnen gehalten, als sie von allen Seiten mit Hohn und Spott überhäuft wurden. Das Verhältnis zwischen Jürgen Baumert und den Kultusministern war das eines solidarischen Freundes. Doch nun reicht es dem deutschen Mister Pisa. In einem Gutachten fordert er von den Kultusministern ultimativ, die Verlierer des Schulsystems "systematisch und massiv zu fördern". Damit ist die Schonzeit für die Minister endgültig vorbei. Baumert, Direktor des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung, und eine Reihe namhafter Forscher machen in dem Gutachten, das die Zeit am Donnerstag präsentiert, ungewöhnliche Vorschläge: Die betroffenen Jugendlichen, immerhin 22 Prozent der Schüler, sollen die Chance zum Aufholen bekommen - durch gezielten Förderunterricht am Nachmittag, an Wochenenden oder in den Ferien.
Baumert zielt damit auf das Kernproblem der deutschen Schule: die Bildungsarmut, die sie produziert. In Deutschland bleiben jedes Jahr 250.000 Jugendliche sitzen, 80.000 verlassen die Schulen ohne Abschluss und ein Fünftel der 15-Jährigen hat massive Leseschwächen.
Ernst Rösner vom Institut für Schulentwicklungsforschung in Dortmund zeigte sich erfreut ob der heftigen Kritik. "Allmählich scheinen die Forscher, die bisher so handzahm waren, ungeduldig zu werden."
Rösner selbst hat die Geduld mit der Kultusministerkonferenz längst verloren. "Da kommen nur Beschlüsse mit dem kleinsten gemeinsamen Nenner heraus. Große Würfe sind nicht zu erwarten." Baumerts Kritik pflichtet Rösner bei: "Die Kultusminister müssen sich endlich um die Kellerkinder des Bildungssystems kümmern - und dezidiert die sozial Schwachen und Kinder aus Migrantenfamilien fördern."
Die harsche Pisa-Bilanz von Baumert und Kollegen verwundert nicht. Der renommierte Forscher hatte 2006 eine Pisa-Sonderauswertung mit verheerenden Ergebnissen veröffentlicht - ohne dass die Kultusminister darauf reagiert hätten. Baumert hatte bei der Untersuchung der deutschen Hauptschulen gezeigt, dass in 17 Prozent eine derart frustrierende bis depressive Lernsituation herrsche, dass man sie nur schließen könne. Dort befinden sich 40 Prozent Jugendlicher, die zu Hause nicht Deutsch sprechen, und ebenso viele, die häufig Gewalterfahrungen machen. Ein Drittel ihrer Eltern ist arbeitslos, ein Drittel hat keinen Beruf.
Baumert hatte in einzelnen Bundesländern besonders viele solcher Chaosschulen entdeckt: In den Stadtstaaten sind es zwischen 70 und 90 Prozent der Hauptschulen, aber auch in Hessen, Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen sind 40 bis 50 Prozent der Hauptschulen nicht funktionsfähig. Genau diesen Ländern legen die Bildungsforscher nun nahe, die "offensichtlichen Probleme in ihren Haupt- und teilweise auch Gesamtschulen viel entschiedener als bisher" anzugehen. Denn diese Schulen, trügen "maßgeblich zum ungünstigen Erscheinungsbild Deutschlands" bei.
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