■ Vorlesungskritik: Dienet einander durch die Liebe
„Kirchenleitung“, meint Wolfgang Huber, „ist gerade heute ohne theologische Klärung nicht möglich.“ Deshalb ließ sich der berlin-brandenburgische Landesbischof von der einschlägigen Fakultät der Humboldt-Universität zum Honorarprofessor ernennen. Am Mittwoch hielt er seine Antrittsvorlesung über „Christliche Freiheit in der freiheitlichen Gesellschaft“, ein erstaunliches Konglomerat aus Sozialwissenschaft und Theologie, aus Paulus und Habermas.
„Die Moderne verwandelt alles in riskante Freiheiten“, umriß er mit dem Soziologen Ulrich Beck das Problem, das sich gerade dem Osten Deutschlands und Europas mit seinem „dramatischer Absturz in die Moderne“ besonders akut stelle. Während Huber den wirtschaftlichen Aspekt der Freiheit in Form der sozialen Marktwirtschaft und den politischen in Form der Menschen- und Bürgerrechte nur kurz abhandelte, konzentrierte er sich auf den kulturellen und den persönlichen Aspekt. Um diese Sphäre der „Lebenswelt“, mit Habermas gesprochen, müsse sich die Kirche verstärkt kümmern. Dabei erfordere kulturelle Freiheit im Sinne der Zivilgesellschaft eine Mehrzahl staatsunabhängiger Kirchen und vertrage sich nicht mit der Privilegierung einer einzigen Staatskirche.
In dieser gesellschaftlichen Freiheit erschöpfe sich die christliche Freiheit aber nicht. Sie fasse vor allem den persönlichen Aspekt radikaler. „Denn Ihr seid zur Freiheit berufen, Ihr Brüder“, zitierte er Paulus. „Nur lasset die Freiheit nicht zu einem Anlaß für das Fleisch werden, sondern dienet einander durch die Liebe!“ Im Sinne von Luthers Doppelthese aus der „Freiheit eines Christenmenschen“ predigte Huber die „freiwillige Selbstzurücknahme um der anderen willen als Ausdruck der Freiheit“.
Nach diesen theologischen Erwägungen setzte Huber sogleich zum Sprung zurück in die Sozialwissenschaft der Gegenwart an. Den „Wertewandel“, den Ronald Inglehart 1977 konstatiert hatte, dürfe man „nicht leichtfertig als Werteverfall deuten“. Die mit dem Individualisierungsprozeß verbundene „Pluralisierung von Lebensformen“ machte er mit einem predigthaften Beispiel deutlich. Die Zeiten für gemeinsame Mahlzeiten in der Familie seien nicht mehr selbstverständlich, sondern müßten ausgehandelt werden. Daran verdeutlichte er, daß dieser Prozeß neben einem „Zugewinn an Optionen“ auch das „Risiko des Scheiterns“ berge. Auf das Verhältnis von Optionen und Ligaturen, von Freiheit und Verbindlichkeit komme es an.
Etwas unvermittelt kam Huber am Schluß auf zwei kirchliche Streitfragen zu sprechen. Offenbar wollte der als links geltende Theologe, der erst im fünften Wahlgang zum Landesbischof gewählt wurde, den Eindruck allzu großer Verweltlichung vermeiden. So sprach er ein „Lob der Familie“ als „Gemeinschaft der Generationen“ aus. Zwar dürfe man nichteheliche, insbesondere gleichgeschlechtliche Lebensformen nicht diskriminieren, gleichwertig aber seien sie nicht. Schließlich sprang Wolfgang Huber für den Sonntag in die Bresche, denn zur Freiheit gehöre auch „das Gut gemeinsamer freier Zeit“.
„Wir sind befreit worden in Liebe zu Ihnen“, wandte sich der Dekan noch einmal an Huber, bevor die Humboldt-Theologen vor lauter Liebe über das Buffet im Nebenraum herfielen. Vielleicht sehen wir sie ja am Samstag auf dem Ku'damm. Ralph Bollmann
wird fortgesetzt
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