■ Vorlesungskritik: Buh für Herrn Stein
Im letzten Moment hat er die Kurve noch gekriegt. So lange hatte Peter Stein von seinem „Faust“-Projekt nur geredet, daß eben dieses Reden das Projekt selbst schon zu ersetzen schien. Immer offensichtlicher führte Stein in Rom das Leben eines Künstlers, der den Zenit seines Schaffens längst überschritten hat und das Schicksal mit einem Mammutvorhaben noch einmal bezwingen will. Doch endlich kaufte die Hannoveraner Expo seinen 18stündigen „Faust“ als kulturelles Feigenblatt ein. Nach zwei Jahren des Probens soll er ihn im Jahr 2000 achtmal an je sieben Abenden zeigen, für weitere Vorstellungen gibt es Interesse in Wien und Berlin.
Daß der „Faust“ nun greifbar nahe rückt, hat den Regisseur offenbar nicht menschenfreundlicher gestimmt. Wenige Tage vor einem geplanten Auftritt an der Freien Universität zog er in einer Berliner Lokalzeitung über seine angeblich publikums- und schauspielerfeindlichen Regiekollegen ebenso her wie über die „kaputten Typen“ von der Kritik. Bei anderer Gelegenheit hatte er schon die ganze Menschheit zur „ekelhaften Rasse“ erklärt.
Kein Wunder, daß er sich jetzt vollends in sein Projekt verkriecht. Die Zeit werde knapp, er müsse seine Kräfte konzentrieren – leider, leider könne er nicht nach Berlin kommen, ließ er den Politologen Ekkehart Krippendorff wissen, der einen Vortrag organisiert hatte. Krippendorff jedoch, als Alt- 68er wenig empfänglich für die Aura der großen Männer, hielt es nicht für nötig, das Publikum rechtzeitig über die Absage zu informieren – schließlich glaubte er, mit dem Germanisten Bernd Mahl einen adäquaten Ersatz gefunden zu haben. So sehr habe sich der Tübinger mit der Geschichte der „Faust“- Inszenierungen beschäftigt, ließ Krippendorff die verblüfften Zuhörer wissen, daß er über die Absage der Regiekoryphäe „nicht mehr traurig“ sei.
Das Publikum sah es offenbar anders. „Buh für Herrn Stein“, tönte es aus den hinteren Reihen, die sich sogleich bedenklich leerten. Dann erging sich Mahl in jenem schwer erträglichen Idiom, das Schwaben für Hochdeutsch halten, in stupiden Aufzählungen, wer wann wo an wie vielen Abenden welche „Faust“-Passagen gespielt hatte. Sein Vortrag schien sich in die Länge zu ziehen wie jene „Faust“-Aufführungen, die vom späten Nachmittag bis weit nach Mitternacht reichten.
Mit dem Sprung in die „Faust“-Moderne, der Gründgens-Inszenierung von 1957, wurde es dann beinahe spannend. Daß nach Mahls Ansicht Peymann 1977 in Stuttgart die „beste Inszenierung“ zuwege brachte, verwundert nicht – Mahl hat sie selbst „begleitet“. Daß Christoph Marthaler 1993 in Hamburg den Text durch den Fleischwolf drehte, billgt er aber nicht: „Wie wird das wohl noch enden?“ Mahl kann ganz beruhigt sein. Schließlich will Stein den „ganzen“ „Faust“. Deshalb wird in Hannover kein einziger Vers fehlen. Ralph Bollmann
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