Vor dem WM-Spiel Brasilien-Serbien: „Es ist ein riesengroßer Egoismus“
Viele Seleção-Stars bekennen sich zum abgewählten, aber noch amtierenden Präsidenten Jair Bolsonaro. Aber es gibt auch andere Stimmen.
Ein junger Mann sitzt in einem Gaming-Sessel. Breites Lächeln, Silberkette. Er wippt zur Musik und bewegt die Lippen zum Text. Mit seinen Fingern formt er eine 22 – es ist die Wahlnummer von Präsident Jair Bolsonaro. In dem Sessel: Fußballstar Neymar.
Kurz vor der Präsidenten-Wahl ging das Tiktok-Video viral: Neymar unterstützt Bolsonaro. Und Neymar deutete auch an, sein erstes Tor bei der WM in Katar dem rechtsextremen Präsidenten zu widmen.
Der exzentrische Superstar ist nicht der einzige WM-Spieler Brasiliens, der den abgewählten, aber amtierenden Präsidenten unterstützt. Auch der Kapitän der seleção, Thiago Silva, und Abwehrspieler Dani Alves sympathisieren ganz offen mit Bolsonaro. Die Spieler leisteten wichtige Schützenhilfe für Bolsonaro. Denn sie sind mittlerweile eigene Marken.
Neymar hat alleine bei Instagram 180 Millionen Follower. Dort postete er fleißig Wahlwerbung für Bolsonaro. Trotz aller Mühen verlor der rechtsextreme Politiker Ende Oktober die Stichwahl knapp gegen den Sozialdemokraten Luiz Inácio da Silva, besser bekannt als Lula. Bis Jahresende ist er aber noch im Amt.
Viele Nationalspieler erklärten ihre Unterstützung für Bolsonaro, kaum einer für Lula. Warum? „Die große Mehrheit schwimmt mit dem Strom“, sagt Walter Casagrande. Der ehemalige Nationalspieler arbeitet heute als bissiger TV-Kommentator. „Jedenfalls weigere ich mich zu glauben, dass sie wirklich wissen, was Faschismus ist.“
Casagrande sieht Ähnlichkeiten in den Biografien vieler Profis: „Die große Mehrheit der Spieler stammt aus armen Familien. Sie gehen nach Europa, verdienen dort viel Geld und vergessen ihre Wurzeln.“ Die Spieler lebten gut im Ausland, meint er. Für sie müsse sich in Brasilien nichts ändern. „Es ist ein riesengroßer Egoismus.“
Die Macht der Religion
Eine weitere Erklärung für rechtes Gedankengut unter Fußballspielern ist die Religion. Die ultrakonservativen Pfingstkirchen haben immer mehr Zulauf in Brasilien, sie könnten laut Berechnungen schon in zehn Jahren die größte Religionsgemeinschaft des Landes werden. Gerade in den armen Vorstädten sind die Kirchen aktiv – dort, wo viele Fußballspieler groß geworden sind. Auch Neymar ist evangelikal. Ex-Kicker und Kommentator Casagrande meint: „Sie unterstützen Bolsonaro, weil er von Gott spricht. Er benutzt den Glauben, um die Menschen zu manipulieren.“
Bei manchen Spieler könnte es auch persönliche Gründe geben, warum sie den Präsidenten unterstützen. Es gibt Spekulationen über einen Steuer-Deal zwischen Neymar und Bolsonaro. Vor drei Jahren nahm der ultrarechte Präsident Neymar öffentlich in Schutz, als Vergewaltigungsvorwürfe gegen ihn laut wurden. Ein Ermittlungsverfahren gegen ihn wurde eingestellt. Der Präsident hilft den Spielern. Und die helfen später dem Präsidenten.
Dass Politiker versuchen, den Fußball für ihre Zwecke zu nutzen, ist nicht neu. „1970 wurde Brasilien bei der WM in Mexiko zum dritten Mal Weltmeister. Und die Militärregierung nutzte den Titel für die eigene Propaganda. Das passiert jetzt wieder mit Bolsonaro. Die Regierung hat die Nationalmannschaft für ihre Zwecke missbraucht.“ Das sagt Gerd Wenzel. Der gebürtige Deutsche lebt seit seiner Kindheit in Brasilien. Während der Diktatur arbeitete Wenzel als Pastor, mehrfach wurde er von den Schergen des Regimes verhaftet. Heute arbeitet der 79-Jährige als Fußballkommentator und gilt als Stimme der Bundesliga in Brasilien. Die Militärdiktatur, unter der Wenzel gelitten hat, wird von Bolsonaro immer wieder verherrlicht.
„Sie haben das gelbe Trikot gekapert“
Und dann ist da noch die Sache mit den gelben Nationaltrikots. Bolsonaro hat das Trikot in den letzten Jahren zum Symbol seiner rechtsautoritären Bewegung gemacht. „Sie haben das Trikot gekapert“, sagt Wenzel. Besonders schlimm wurde es in den letzten Wochen – nachdem Bolsonaro die Wahl verloren hat. Die Anhänger*innen des Präsidenten gehen seitdem in den gelben Fußballtrikots auf die Straße, blockieren Autobahnen, belagern Armee-Stützpunkte. Und sie prangern einen vermeintlichen Wahlbetrug an. Es gibt Videos von Bolsonaro-Fans, die den Hitlergruß zeigen – und dabei das gelbe Nationaltrikot tragen.
Begonnen hat das bereits 2015. Auf Massendemonstrationen wurde der damaligen Präsidentin Dilma Rousseff Korruption vorgeworfen – und auch dem Ex-Präsidenten Lula. Beweise gab es kaum. Doch die Welle der Empörung gegen „die da oben“ war ins Rollen gekommen. Und die Nationalfahne und das gelbe Trikot wurden zum Symbol dieser Empörung. Mit Bolsonaro an der Spitze.
Heute, kurz vor der WM in Katar, versucht der brasilianische Fußballverband CBF, etwas von diesem Schaden wieder zu reparieren. Das gelbe Trikot soll mit einer Imagekampagne „entpolitisiert“ werden. Ob das Erfolg haben wird, ist fraglich.
Die linke Tradition des brasilianischen Fußballs
Es gibt aber auch eine linke Tradition im brasilianischen Fußball. Beim Fußballclub Corinthians aus São Paulo wurde 1982 die „democracia corinthiana“, die Corinthians-Demokratie, eingeführt. Es war ein basisdemokratisches Experiment, alles wurde fortan kollektiv entschieden. Jeder hatte eine Stimme, vom einfachsten Angestellten bis zum Superstar. Und der Verein wurde zu einem wichtigen Sprachrohr der Opposition.
Die Spieler trugen auf ihren Trikots politische Botschaften gegen die Diktatur. „Verlieren oder gewinnen, aber immer mit Demokratie“, lautete ihr Leitspruch. Der selbstverwaltete Verein gewann im Jahr 1982 überraschend die Meisterschaft. Einer der Köpfe der Bewegung: Walter Casagrande, auch Superstar Sócrates war dabei. „Unser Engagement hatte ein weltweites Echo“, sagt Casagrande. „Aber wir wurden verfolgt.“
Deshalb ist es für Casagrande schwer zu ertragen, dass einige Spieler heute einen Präsidenten unterstützen, der die Verbrechen der Militärdiktatur ganz offen verherrlicht.
Aber nicht alle Nationalspieler der WM-Elf unterstützen Bolsonaro. Der Tottenham-Stürmer Richarlison kritisierte den Präsidenten indirekt in den sozialen Medien. Außerdem engagiert er sich gegen Rassismus, für den Umweltschutz. Und er spendet 10 Prozent seines Gehalts für soziale Projekte. Während der WM wird sich aber auch Richarlison wahrscheinlich nicht äußern.
Trotz aller Kritik wird der ehemalige Nationalspieler Walter Casagrande die WM im Fernsehen verfolgen. Er verspüre keine Liebe für diese Nationalmannschaft, finde sie unsympathisch. „Aber ich hoffe trotzdem, dass Brasilien den Titel gewinnt.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!