Von wegen "Yes, we gähn": Die Legende von der Langeweile
Der Medien-Vorwurf des inhaltsleeren, öden, entpolitisierten Wahlkampfs ist heuchlerisch: Es ist die Politik, die unter der Art ihrer öffentlichen Präsentation leiden muss - und mit ihr die Wähler.
I. Der Karneval des Wahlkampfs
Demokratie ist ein System organisierter Unsicherheit. In feststehenden Intervallen wird politische Herrschaft neu verteilt nach einem Mechanismus - dem der demokratischen Wahl, dessen zentrale Funktion es ist, die Gesellschaft bis zuletzt über sein Ergebnis im Ungewissen zu lassen. Wie eindeutig auch immer die Prognosen ausfallen mögen, endgültig "sicher" ist der Wahlausgang erst, nachdem alle Stimmen ausgezählt sind. Der Wahlkampf definiert die Zwischenphase, in der die alte Regierung nicht mehr und die neue Regierung noch nicht regiert, in der eine alte, demokratische Repräsentationsbefugnis erloschen, aber eine neue noch nicht ausgestellt ist. In dieser Phase demokratischen Machttransfers wird die (politische) Gesellschaft zur unstrukturierten Gemeinschaft, Regierung und Opposition begegnen sich nun gleichgestellt als Parteien, sie sind auf einen gemeinsamen Status reduziert. In dieser Zeit fällt die Herrschaft an den Souverän, das Wahlvolk, zurück. Niemand kann nun in seinem Namen handeln, politische Repräsentation endet hier. Diese Übergangsphase ist daher eine Zeit inszenierter Formlosigkeit, der "Antistruktur", des Karnevals des Wahlkampfs.
Eine Reihe von symbolischen Vorkehrungen lassen diese politische Zeitstruktur der Demokratie sinnfällig werden. Dem sachlichen Diskontinuitätsprinzip (in der zu Ende gehenden Legislaturperiode nicht mehr abgeschlossene Gesetzgebungsverfahren müssen in der neuen Legislaturperiode vollkommen neu eingebracht werden) entspricht ein personelles: In Zeiten des Wahlkampfs kann man beobachten, wie sich öffentliche Amtsträger in parteipolitische Amtsträgeraspiranten zurückverwandeln. Das Werbeverbot für amtierende Regierungen in eigener, nun parteipolitischer Sache ist deswegen nicht nur mit dem Prinzip der Chancengleichheit zwischen Regierung und Opposition begründet. Schließlich dient vor allem der Wahlvorgang selbst als kollektives, aber bis zur gleichzeitigen Schließung der Wahllokale im Ergebnis geheimes Simultanereignis dazu, der demokratischen Neuzuweisung zeitlich begrenzter Herrschaft eine allgemein sichtbare narrative Struktur mit klar demarkiertem Beginn und Ende zu geben. Die demokratische Ursprungsbehauptung "Alle Macht geht vom Volke aus" kann in der Wahl nur dann regelmäßig beglaubigt werden, wenn die Wahl tatsächlich ein Ereignis mit konkretem Beginn und Ende, eigenem Ort und eigener Zeit ist.
Mit der erhöhten politischen Unsicherheit in Zeiten des demokratischen Herrschaftsübergangs fällt auch die Gesellschaft regelmäßig in einen Zustand erhöhter Erregung, nervöser Anspannung, die Ausdruck jenes anomischen Zustandes temporärer Herrschaftslosigkeit ist, in den Demokratien in festen Zeitabständen fallen (müssen).
II. "Das ist Demokratie / langweilig wird sie nie" (Andreas Dorau, 1988)
Gesellschaftliche Erregung? Nervöse Anspannung? Erhöhte politische Unsicherheit? Haben wir nicht soeben einen "Wahlkampf wie auf Propofol" erlebt? Hat Andreas Dorau vielleicht doch Unrecht?
Ziehen wir vom Langeweilevorwurf die der besonderen Konstellation einer großen Koalition geschuldete verständliche Hemmung von Union und SPD ab, ihre letzten vier Jahre gemeinsamer Regierungsverantwortung schlechtzureden, und stellen wir weiterhin in Rechnung, dass in der schwersten Wirtschaftskrise der Nachkriegszeit das Publikum wohl etwas anderes als eine gebremste Sachauseinandersetzung noch weniger geduldet hätte, so bleibt vom Vorwurf des öden, inhaltsleeren, entpolitisierten Wahlkampfs nicht viel mehr als eine interessengeleitete Legende. Sie lenkt davon ab, dass die Langeweile nicht eine an der Politik ist, sondern eine an der heute dominanten Form ihrer Darstellung. Diese ist sichtbar an ihre Grenzen gestoßen.
Will man daher von den leeren Ritualen der Politik reden, so wäre zuerst zu sprechen von einem bis zur Besinnungslosigkeit alimentierten öffentlich-rechtlichen Fernsehen, dessen politische Berichterstattung mit viel Aufklärungsemphase, aber ohne jeglichen Erkenntnisgewinn, einen Leerlauf der Bilder, ein wildes Stimmengewirr produziert. Das Wort von der "Christiansenisierung der Politik" erinnert wenigstens daran, wer verantwortlich ist, denn es ist ja nicht so, dass die Politik das Format ihrer Präsentation frei bestimmen kann. Im Fernsehen in seiner aktuellen Verfassung kommt Politik nur deformiert zur Darstellung: Personalisiert, reduziert auf die aktuelle Gesprächsrundenperformanz, als Kommunikation unter Anwesenden. Dabei wird suggeriert, der Informationsauftrag sei schon dann erfüllt, wenn fünf Personen sich eine Stunde lang wechselseitig ins Wort fallen. Hier fällt Politik mit ihrer Beobachtung in eins. Kein Distanz-, kein Reflexionsgewinn, soweit man blickt.
Darüber, dass uns das dominante Format der Gesprächsrunde politische Berichterstattung in ihrer Schwundstufe bietet, darüber können auch inflationäre Kurzeinspielungen nicht hinweg täuschen: Als in Frank Plasbergs "Hart aber Fair"-Sendung kürzlich die Rede auf Roland Kochs Bemerkung vom Ypsilanti-Gen der Sozialdemokratie kam, wurde das Experteninterview mit einem Biologen geführt! Die zentrale Maxime des Mediums - KISS ("Keep it simple, stupid") - rechtfertigt, so scheint es, die maximale intellektuelle Unterforderung des Publikums. Es ist jedoch unfair, den Überdruss an der Politik, der in erster Linie ein Überdruss an dieser Darstellung von Politik ist, wiederum als Vorwurf - Politikverdrossenheit wegen angeblicher Inhaltsleere - bei den Parteien abzuladen.
Niedergangshypothesen dieser Art mit ihrem leicht bildungsbürgerlichem Einschlag ("Leute, lest mehr Zeitung und seht weniger fern") sind zur Zeit nicht sonderlich originell, aber die Konjunktur entsprechender Zeitdiagnosen - "Seichtgebiete", "Die verblödete Republik", "Dummgeglotzt" etc. - zeigt an, dass da offensichtlich etwas ist. Aber wichtiger ist es vielleicht zu bestimmen, was genau mit der Politik passiert durch die Art ihrer öffentlichen Präsentation. Eine Antwort auf diese Frage mag zugleich erhellen, woher sich aktuell das gesteigerte Interesse an dem Inszenatorischen, Theatralischen, Performativem der Politik, an den Symbolen, Gesten und Ritualen der Macht speist.
III. Politische Kommunikation unter Anwesenden
Es ist wohl nicht zufällig, dass man anregende Erklärungshinweise vor allem bei Historikern findet, bei Historikern wie Barbara Stollberg-Rilinger (Münster) oder Rudolf Schlögl (Konstanz), die sich mit politischer Repräsentation und politischer Kommunikation in der Frühmoderne beschäftigen. Stollberg-Rilinger wie Schlögl betonen, dass die Geschichte des Wandels politischer Kommunikation vor allem als Mediengeschichte zu schreiben ist. Und sie schildern, wie das Zeremonielle und die performative Realität höfischer Repräsentation, das Zusammen-Fallen des politischen Entscheidens mit seiner Beobachtung durch die Beteiligten, durch die zunehmende Verschriftlichung der politischen Kommunikation in den Hintergrund traten. Politik wurde aus ihrem unmittelbaren Entstehungskontext gelöst, der politische Zeithorizont gestreckt, die Widerspruchswahrscheinlichkeit erhöht: Politik hörte auf, ein "zeremoniell geformter Interaktionszusammenhang" unter Anwesenden (Schlögl) zu sein.
Im Medium ihrer fernsehgerechten Darstellung, der Unmittelbarkeit und Gleichzeitigkeit der Bilder wird politische Repräsentation jedoch heute - so scheint es - wieder "höfischer". Entscheidend wird wieder Performanz, der persönliche Fehltritt oder das individuelle Ungeschick in der öffentlichen Darstellung. Ob es dem Fernsehen gelingt, hinter die Maske zu schauen, die man dem Politiker zuvor aufgezwungen hat. Die Medien lauern auf die Verletzung einer bizarren Etikette öffentlicher Darstellung, der sich die Kandidaten zuvor unterwerfen müssen. Politik bedeutet dann, dass Frau Merkel in der Öffentlichkeit in keine Bratwurst beißen darf, weil das unvorteilhafte Bilder gibt.
Es herrscht wieder der Aberglaube an die ganz äußeren Formen. Auch die Rede von der Floskelhaftigkeit der Politikersprache ist heuchlerisch, wenn die ganze journalistische Anstrengung ausschließlich darauf gerichtet ist, den einzelnen Politiker der Verletzung einer jener politischen Sprechformeln zu überführen, deren Allgegenwart man zugleich beklagt. Züchtet man sich auf diesem Weg einen Politikertypus heran, der die neue politische "Verhaltenslehre der Kälte" perfekt verinnerlicht hat, dann macht das nachträgliche "Mir ist langweilig" wenig Sinn. Dass unter diesen Bedingungen das schauspielerische Vermögen zur Hauptqualifikation eines Politikers wird, kann nicht ernsthaft der Politik als Verlogenheit angerechnet werden.
Rituelle Politik erschöpft sich daher nicht mehr in den politische Übergangsriten in Zeiten des Herrschaftswechsels, in der ritualisierte Mobilisierung des eigenen Lagers, den Kundgebungen auf den Marktplätzen, dem Bad in der Menge, in getätschelten Kinderköpfen. Zu diesen Elementen eines alten Politikmodus gehört auch die Simulation von Handeln durch die, die Entscheiden: Betriebsbesichtigungen mit dem obligatorischen roten Knopf, der das Förderband in Gang setzt, Spatenstiche, zerschnittene Einweihungsbänder. Diese hergebrachten Politikrituale ragen in die neue politische Welt wie ein Überbleibsel aus der alten hinein, und das auch nur, weil sie geschehen unter den Augen eines immer präsenten Journalisten- und Photographentrosses, der auf der beständigen Suche nach dem nächsten entblößenden Bild ist.
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