: Von der Warteschleife auf das Abstellgleis
■ Ab Sonntag im Sturzflug — wer weiß wohin
Leipzig. Wenn morgen die „Warteschleifenregelung“ ausläuft, weiß niemand, wieviele Betroffene es geben wird. Das Bundesinnenministerium schätzt 100.000, Gewerkschaften nehmen zwischen 300.000 und 700.000 an. Mit der staatlichen Einheit im Oktober 1990 wurden viele DDR-Behörden, allen voran die 15 Bezirksverwaltungen, überflüssig. Über Nacht gab es für einen Teil der zwei Millionen dort Beschäftigten keine Arbeit mehr.
An Universitäten und Hochschulen mußten jene Professoren, Dozenten und Angestellten mit Arbeitslosigkeit rechnen, die ideologisch belasteten Sektionen angehörten. Um den Abschied aus dem Beruf „sozial abzufedern“, erfanden die Konstrukteure der Einheit die sechsmonatige Warteschleife. Die Betroffenen erhielten 70 Prozent ihrer bisherigen Bezüge und sollten Aus- und Fortbildungsmaßnahmen nutzen. Bis zum 30. Juni war über jeden einzelnen zu entscheiden, ob er im öffentlichen Dienst weiterbeschäftigt wird.
Gerhard Klinke vom Arbeitslosenverband Leipzig sieht die Situation nicht so einfach. „Für die Staatsbediensteten, sofern sie nicht Schwangere oder Frauen im Mutterjahr sind und über besonderen Kündigungsschutz verfügen, ist es eindeutig. Ihre Institution wurde aufgelöst, nach der Warteschleife folgt der Gang zum Arbeitsamt.“ Umstritten sei die Warteschleifenregelung an den Universitäten. Der Münchner Rechtsanwalt Walter Oertel begründet das so: „Oftmals besteht die Einrichtung ja weiter, die Sachmittel bleiben und nur die Aufgabe ist eine andere. Da kann man also nicht von Auflösung reden, ist eine Abwicklung eigentlich nicht rechtens.“ Dem widerspricht Peter Gutjahr-Löser, Kanzler der Universität Leipzig: „Die alten Lehrstühle wurden aufgelöst, für die Fakultäten gibt es Gründungsdekane. Wir schaffen etwas völlig Neues.“ In seinem Urteil über eine von 304 Betroffenen eingereichte Verfassungsbeschwerde, erklärte das Bundesverfassungsgericht Ende April die Warteschleifenregelung mit Ausnahme der Kündigungen für Schwangere und Mütter als verfassungskonform. Klagen vor örtlichen Gerichten häufen sich. Die Rechtsprechung ist uneins. Während das Leipziger Stadtgericht die Klage zweier Hochschullehrer ablehnte, stoppte das Oberverwaltungsgericht in Berlin die Abwicklung ideolgisch belasteter Sektionen der Humboldt-Universität. Die Auswirkungen dieses Durcheinanders haben die Studenten zu tragen. Die besten Wissenschaftler lehren heute bereits im Westen Deutschlands, ein anderer Teil verdient sein Brot in der freien Wirtschaft. Oliver Schirg/dpa
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