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Von der Sprachlosigkeit

■ Die enigmatischen Neo-Symphoniker „Sigur Rós“ lassen im Schlachthof Münder offen stehen und Augen glänzen

„Über Musik schreiben“, so eine Binsenweisheit der mit ebenjenem befassten Zunft, „ist wie Architektur tanzen“. Besonders beliebt ist dieser Offenbarungseid bei von Promozetteln abhängigen LohnschreiberInnen, wenn das zu bearbeitende Klangmaterial ohne erläuternde Textebene oder wenigstens (theoretischen) Überbau daherkommt.

Im Fall von Sigur Rós liegt der Fall ähnlich: Die Bandmitglieder Jon Thor Bigisson, Kjartan Sveinsson, Georg Holm und Orra Pall Dyrason geben sich bisweilen spröde bis verschlossen, werden Fragen zur Musik gestellt. Diese sei „etwas Natürliches, das man nicht analysieren muss“ (Intro). So weit, so gut – und so ähnlich den kontaktscheuen Kanadiern Godspeed You Black Emperor!; mit denen waren Sigur Rós vor einiger Zeit auf Tour. Und nicht nur deswegen bescherte das Fachblatt Intro beiden eine gemeinsame Strecke samt Titelseite.

Das war keine unstimmige Kombination: Die Bands teilen sich merklich übers Singleformat hinaus gehende Stücklängen, Langsamkeit und Wall-of-Sounds bei getragener bis „misanthropischer“ (das dürfte eins der hierbei am häufigsten verwendeten Adjektive sein) Grundstimmung; entsprechend die Besetzung inklusive Streichinstrumenten und gelegentlich zu solchem umfunktionierte E-Gitarre, dazu Keyboards, Bass und Schlagzeug.

Den durchaus kunstmusikalisch-ambitionierten Eindruck verstärkt – etwa neben dem edel in samtblauer Pappe und Prägeschrift gehaltenen Cover des jüngsten Albums Agaetis Byrjun – dann endgültig, dass die Texte in einer Mischung aus Isländisch und einer Kunstsprache („Hopelandish“) verfasst sind. (Und wann kommt eigentlich das Magma-Revival?)

Überhaupt Island: Dass nämlich Sigur Rós auf der „zweitgrößten Insel Europas“ (Intro) zu Hause sind, ließ auf weiter Presseflur die Reflexe endgültig einschnappen. Neben obligaten Anekdoten über die zweieinhalb anderen Pop-Exporte war da von Geysiren und Elementen, Kobolden und anderem Mythengeschnätz die Rede, dass es waberte. Und selbst besonnene Medien konnten nicht umhin, in tradierten Kanons nach Vokabeln des Erhabenen, Zeitlosen, gar Überirdischen zu kramen. Was Sigur Rós nicht nötig hätten.

Alexander Diehl

heute, 21 Uhr, Schlachthof

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