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Von der Kunst der Beschränkung

Zwei Melville-Wiederaufführungen stehen ins Haus: „Le Samourai“ und „Les enfants terribles“  ■ Von Lars Penning

Jean-Pierre Melville habe ihm einst die ersten dreißig Seiten eines Drehbuches gezeigt, die kein einziges Wort Dialog enthalten hätten, erzählte der Schauspieler Yves Montand einmal. In „Le Samourai“ („Der Eiskalte Engel“, 1967), dem wohl bekanntesten Film des französischen Regisseurs, vergehen acht Minuten, ehe zum ersten Mal geredet wird. Nach zwanzig Minuten sind vielleicht fünfzehn Sätze gesprochen worden – eine Beschränkung auf das Notwendigste, die man jedoch keinesfalls als Selbstzweck mißverstehen sollte. Wie Robert Bresson oder Aki Kaurismäki konnte sich Melville auf seine Bilder verlassen. Klar und präzise wie ein Uhrwerk laufen seine Geschichten ab – ein Kino, in dem es keine überflüssigen Einstellungen, kein schmückendes Beiwerk gibt. In einer Szene in „Le Samourai“ versucht ein Killer, einen anderen umzubringen. In Großaufnahme sehen wir, wie beide in das Innere ihres Mantels greifen, in einer Totalen kommt dann der Schuß, ein Gerangel und das Weglaufen. Eine Szene, die nicht auf übergroße Spannung hin inszeniert ist, aber sämtliche für den Zuschauer wichtigen Informationen in drei Einstellungen liefert. Das einfache Handwerk habe er immer gepredigt und als Beispiel das klassische amerikanische Kino eines William Wyler oder Robert Wise angeführt, erinnerte sich sein früherer Regieassistent Volker Schlöndorff.

Daß er ein „amerikanischer“ Regisseur von films noirs gewesen sei – gegen diese Behauptung hat sich Melville jedoch immer wieder so vehement wie erfolglos zur Wehr gesetzt. Durch seinen Lebensstil unterstützte er vielmehr dieses Vorurteil noch: In seiner Wohnung habe es ausgesehen wie im Dekor eines amerikanischen Films der vierziger Jahre, schrieb Schlöndorff. In seinem amerikanischen Straßenkreuzer unternahm Melville nächtliche Fahrten und „suchte Kamerawinkel, von wo Paris wie Manhattan wirken“ würde. Vor allem aber war er der Mann mit Hut und Regenmantel. Nach einem Interview, daß er 1968 Rui Nogueira und Francois Truchard gab, notierten die beiden Kritiker: „Er sieht genau aus wie einer seiner Helden – oder genauer, seine Helden sehen aus wie er.“

Alain Delon wurde zu einer Ikone des Kinos, indem er die Gesten seines Regisseurs imitierte: wie er als Berufskiller Jeff Costello in „Le Samourai“ mit versteinertem Gesicht vor dem Spiegel steht, den Kragen seines Trenchcoats hochschlägt und die Krempe seines Huts mit zwei Fingern nachzieht. Eine Uniform hat Melville diese Kleidung genannt und daß ein Mann, der mit einem Hut auf dem Kopf einen Schuß abfeuert, im Film nun einmal sehr viel eindrucksvoller sei als ein barhäuptiger Mann. „Der Hut auf dem Kopf balanciert ein wenig den Revolver in der Hand aus.“

Kein Wunder also, daß Kritiker und Cineasten gern nach den „Vorbildern“ von Melvilles Filmen forschten und im Falle von „Le Samourai“ auch fündig wurden: Den Berufskiller, der sein Opfer ohne Regung umbringt, kannte man aus Frank Tuttles „This Gun for Hire“ und die spätere Suche nach den Auftraggebern aus Don Siegels „The Killers“. Melville zitiert diese Filme jedoch nicht wirklich, er benutzt lediglich Versatzstücke, die er in seine Art von stilisiertem Kino einbaut, das stets die Einsamkeit des Menschen und seine Unfähigkeit zur Liebe und Kommunikation zum Thema hat. Nicht zu unrecht hat sich Melville deshalb eher mit japanischen Filmregisseuren verglichen.

Melvilles Figuren flüchten sich häufig in Rituale und abstrakte Begriffe wie Treue, Ehre und Freundschaft. In „Le Samourai“ gibt es jedoch nicht einmal mehr die Freundschaft, der Killer ist nahezu existentialistisch allein. „Le Samourai“ ist wohl der unwirklichste, der abstrakteste von Melvilles Filmen. Dem Film als Motto vorangestellt ist ein Satz, der angeblich aus dem Samurai-Buch „Bushido“ stammt, jedoch von Melville selbst erfunden wurde: „Es gibt keine größere Einsamkeit als die des Samurai, es sei denn die des Tigers im Dschungel.“

Wie Hans Gerhold einmal richtig schrieb, ist Jeff Costello sowohl der Samurai als auch der Tiger. Die Rituale verweisen auf den Samurai: das Anziehen des Mantels, das Nachziehen der Hutkrempe, das Überstreifen der weißen Handschuhe. All seine Handlungen – egal, ob er ein Auto stiehlt, sich ein Alibi verschafft, einen Mord begeht oder seine Schußwunde versorgt – geschehen mit der gleichen Sorgfalt. Seinen Tod inszeniert er als eine Art Harakiri; er läßt sich absichtlich von der Polizei erschießen. „Ich verliere niemals – niemals wirklich“, hatte er schon ziemlich am Anfang des Films gesagt, und so wird auch sein Tod noch zum Triumph. Zwischenzeitlich wird Jeff zum Tiger: auf der Jagd nach seinen Auftraggebern, die ihn aus dem Weg räumen wollten, und gleichzeitig gejagt von der Polizei, die ihn zu überwachen versucht. Das Labyrinth der Metro wird zum Dschungel, in dem sich der Tiger jedoch besser auskennt als die Häscher und entkommt.

Eine Beziehung zu anderen Menschen hat Costello nicht. Das Verhältnis zu seiner Geliebten wird in einem einzigen Dialogsatz charakterisiert: „Ich liebe es, wenn du zu mir kommst, weil du mich dann brauchst“, sagt sie; die einzigen von ihm an sie gerichteten Worte enthalten lediglich die genaue Uhrzeit seines gewünschten Alibis. Eine Beziehung scheint Jeff nur zu seinem Dompfaff zu haben, dessen Vogelbauer den Mittelpunkt seiner Wohnung bestimmt.

In Melvilles Kino sind die Handlungen der Figuren nicht psychologisch motiviert, vielmehr definieren sich die Protagonisten durch ihr Handeln und werden häufig durch Gegenstände und die Räume, in denen sie leben und arbeiten, charakterisiert. In „Le Samourai“ sind es Hut und Mantel, Revolver und ein Schlüsselbund voller Autoschlüssel, die den Killer Jeff ebenso beschreiben wie seine trostlose Wohnung: ein Bett, ein Schrank, eine scheinbar leere Kommode und eine kleine Küche. Auf dem Schrank stehen Mineralwasserflaschen aufgereiht wie die Zinnsoldaten, und der Vogel in seinem Bauer wirkt genauso eingesperrt wie Costello in den Zwängen seines Lebens. Im ganzen Zimmer herrscht ein schmutziger gelb- grün-grauer Farbton vor, der sich auch sonst durch den ganzen Film zieht. Melville erzählte, daß er sogar Geldscheine und die Etiketten des Mineralwassers und von Zigarettenpackungen habe fotokopieren lassen, um die Farben noch mehr zurückzunehmen. – Ein Hinweis auf die von Melville stets behauptete Austauschbarkeit seiner Gangster- und Polizeifiguren: Eine frappierende Ähnlichkeit im Gebaren besteht besonders zwischen Costello und den beiden Polizisten, die in seiner Wohnung das Mikrophon installieren. Mit der gleichen Professionalität und Seelenruhe, mit der Costello Autos knackt, brechen die Polizisten in seine Wohnung ein – sogar die Schlüsselbünde sehen sich zum Verwechseln ähnlich.

Die Charakterisierung der Protagonisten durch Gegenstände, Räume oder Ausleuchtung verbindet „Le Samourai“ mit einem Frühwerk Melvilles, der Verfilmung von Jean Cocteaus „Les enfants terribles“ („Die schrecklichen Kinder“, 1949). Cocteau hatte Melville die Regie angeboten, jedoch Drehbuch und Dialoge selbst geschrieben. Auf den ersten Blick scheint sich „Les enfants terribles“ geradezu antipodisch zu „Le Samourai“ zu verhalten: Die Figuren reden und streiten am laufenden Band. Und doch enthält Cocteaus Geschichte der Geschwister Elisabeth und Paul, die sich necken, streiten, hassen und in einer uneingestandenen inzestuösen Liebe zueinander stehen, auch die typischen Melvilleschen Elemente: Abgeschlossen von der Außenwelt, eingeschlossen in ihr Zimmer spielen die beiden fast erwachsenen Kinder rituelle Spiele, die nicht zu durchschauen sind. Der mysteriöse „Schatz“, die magischen Symbole der Geschwister, würden Außenstehenden nur wie wertloser Plunder in einer Schublade vorkommen.

Jeder Ausbruch aus dieser Enge – eine Reise ans Meer, Elisabeths Arbeit als Mannequin, ihre Heirat mit einem reichen Amerikaner, der schon einen Tag nach der Hochzeit bei einem Unfall stirbt, und der Umzug in sein gewaltiges Palais – führt am Ende immer wieder zurück in das Zimmer, das Paul sich schließlich mit Hilfe von Wandschirmen auf der riesigen Galerie des Palais wiedererrichtet. Melvilles Inszenierung verstärkt das Klaustrophobische, macht die Räume eng und taucht sie in das irreale Licht starker Helldunkelkontraste (Kamera: Henri Decae, wie auch in „Le Samourai“). Unausweichlich wie Figuren einer antiken Tragödie und wie der Samurai Jeff Costello streben Elisabeth und Paul auf die einzige mögliche Lösung ihrer Existenz hin: den Tod. Erst wenn Elisabeth nach ihrem Selbstmord im Fallen die Wandschirme umreißt, ist das Spiel aus.

Jean-Pierre Melville: „Le Samourai“ (Der eiskalte Engel). Kamera: Henri Decae; mit Alain und Nathalie Delon, Francois Perier u.a., Frankreich/Italien 1967, 103 Min.

Jean-Pierre Melville: „Les enfants terribles“ (Die schrecklichen Kinder). Kamera: H. Decae; mit Nicole Stephan, Edouard Dhermite u.a., Frankreich 1949, 106 Min.

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