piwik no script img

Von der Kastanie zu den Sternen

Wer in den Alpen überwintern will, braucht viel Energie. Wo sonst käme man auf die Idee, ein Winteressen „Hungertöter“ zu nennen? Die Gerichte aus entbehrungsreichen Zeiten werden heute zum Soulfood

Alpines Winterteam: Kastaniensuppe mit Pilzen Foto: Eva Gruendemann/Westend61/picture alliance

Von Barbara Schaefer

In Tirol schneite es dieses Jahr Michelinsterne. Der Gourmetführer zeichnete 20 Lokale in dem österreichischen alpinen Bundesland mit insgesamt 24 Sternen aus. Dass die Region heute eine so große Handwerkskunst, Kreativität und Aromenexplosionen zu bieten hat, ist der Höhepunkt einer langen, erstaunlichen Entwicklung. Noch vor vier Generationen mussten die Menschen Tirol aus Armut verlassen, wurden die Kinder zum Arbeiten weggeschickt. Heute speisen die Gäste im Skiurlaub auf höchstem Niveau.

Vor allem der Winter war in den Alpen eine Zeit der Entbehrung. Man ernährte sich von Getreideprodukten wie Brot und Mehlsuppen, dazu gab es Kartoffeln und Wurzelgemüse: Rüben, Karotten, Bete, Kren und Pastinaken. Wer überleben wollte, musste im Sommer vorsorgen und haltbare, nahrhafte Vorräte anlegen, etwa Trockenfrüchte, Käse, Speck und Kastanien. Fleisch wurde wenig gegessen, viele konnten sich, wenn überhaupt, nur den Sonntagsbraten leisten. Und wenn geschlachtet wurde, kam nahezu alles vom Tier auf den Tisch – eine Tradition, die in den letzten Jahren unter dem Namen „Nose to Tail“ wiederentdeckt wurde.

Die Rezepte von damals werden heute gerne wieder gekocht. Zum alpinen Soulfood geworden, bringen sie Wärme und Gemütlichkeit ins Leben. Der lange auf dem Herd schmurgelnde Eintopf, das lustvolle Kneten von Knödeln, der Geruch nach schmelzendem Käse sprechen direkt das Herz an, und der Magen darf in freudiger Erwartung knurren.

Die winterlichen Gerichte hatten seinerzeit freilich vor allem den Zweck, satt zu machen. Beim „mazzafam“ steckt das schon im Namen: Der „Hungertöter“ aus dem Tessin besteht aus Kartoffeln, Polenta, Mehl und Butter. Also Kohlehydrate im Quadrat. Im Veltlin serviert man im Winter Pizzo­ccheri, Buchweizennudeln mit Kartoffeln und Wirsing. Auch die Schweiz hat ihre Kalorienbomben. Zu den „währschaften“ Gerichte zählen etwa Lauch mit Rahm oder Älpler-Rösti mit Salsiz, mit luftgetrockneter Wurst.

Zudem war es verbreitet, Sommergemüse zu fermentieren. Die Methode ist einfach: Außer Möhren, Paprika, Zwiebeln, Gurken oder Kürbis werden nur Wasser und Salz benötigt. Pilze und Bakterien lösen einen Stoffwechselprozess aus, der die Lebensmittel länger haltbar macht. Im Winter war dies eine wichtige Vitaminquelle. Heute weiß man, dass fermentiertes Gemüse besonders bekömmlich ist. Der Fermentation verdanken wir auch Käse, Wein, Bier und Sauerkraut.

Wer im Herbst im Tessin oder im Piemont wandert, findet auf den Wegen kleine, grüne, piksige Igel: Esskastanien. Heute verwildern die Kastanienwälder, die Maronen werden kaum noch geerntet. Doch in kargen Zeiten waren sie die Grundversorgung einer ganzen Region. Die Kastanie galt als das „Brot des Berges“, niemals hätte man sie auf dem Weg herumliegen lassen. Die Wälder waren Allmende, die Ernte der Edelkastanien (Castanea sativa) war streng geregelt.

150 Kilo Kastanien rechnete man als Vorrat für einen Esser pro Winter. Manchmal waren Marroni am Ende des Winters die einzige Nahrung.

Ursprünglich stammt die Kastanie aus dem Kaukasus, die Römer importierten sie vor 2000 Jahren im Südalpenraum. Da sie jahrhundertelang ein Hauptnahrungsmittel waren, heißen Kastanienbäume im Tessin schlicht „arbur“: Baum. Auch die nicht essbaren Bestandteile waren nützlich: Die Schalen wurden als Brennstoff genutzt, und das einfach zu verarbeitende Kastanienholz eignet sich dank seines hohen Tanninanteils gut für Außenbauten und Lattenzäune. Die Zweige verfütterte man an Ziegen.

Die Früchte der Kastanie lassen sich erstaunlich vielseitig einsetzen. Sie wurden geröstet und gedörrt. Die Piemonteser konservierten die Kastanien, indem sie sie in warmem Wasser einweichten, dann in kaltes Wasser legten und nach einigen Tagen in Sägespänen lagerten. Kastanienmehl diente als Ersatz für Getreide und wurde zu Brot, Polenta oder Brei verarbeitet. Getrocknete Kastanien waren süß, nahrhaft und lange haltbar. Auch süße Kastanienkuchen gab es. Man buk Fladen aus dem Mehl, machte Nudeln oder nahrhafte Suppen daraus.

Wer so etwas nachkochen möchte, kann es mit einem Pilz-Maronen-Ragout probieren, in dem getrocknete Pilze den Maronen-Geschmack betonen, Piment und Koriander das Süßliche aber aufpeppen.

Ganz sicher satt macht die Kastanien-Polenta mit Bergkäse. Dafür mischt man (für vier Personen) 150 g Polentagrieß mit 100 g Kastanienmehl, einem Liter Wasser oder Brühe, etwas Salz und Butter. In die heiße Brühe Mehl und Grieß rieseln lassen, immer schön rühren. Eine gute halbe Stunde köcheln lassen, bis eine cremige Masse entsteht. Nun Butter und 150 g geriebenen würzigen Bergkäse einrühren, kurz ziehen lassen. Dazu, damit es nicht zu leicht wird, reicht man geschmolzene Butter. Und gern ein Glas kräftigen Rotwein.

Das cremige, nussig und leicht süßliche Gericht, gekrönt mit dem würzigen Käse, ist ein Paradebeispiel der winterlichen Alpenküche. Es wärmt, macht satt und schmeckt – ob mit Stern oder ohne.

Gemeinsam für freie Presse

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Alle Artikel stellen wir frei zur Verfügung, ohne Paywall. Gerade in diesen Zeiten müssen Einordnungen und Informationen allen zugänglich sein. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass kritischer, unabhängiger Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen