Von der Ausfallstraße in den Volkspark: Punks auf den Schießstand
Bezirksamt Altona bietet Obdachlosen von der Stresemannstraße zum Überwintern ein ehemaliges Clubheim der Polizei an.
HAMBURG taz | Das Angebot klingt erstmal verlockend. Die 35 Obdachlosen, die seit Monaten auf der Brachfläche an der Stresemann/Ecke Kieler Straße in selbst gebauten Hütten, Bauwagen oder Zelten wohnen, sollen in dem Clubheim des Polizeisportvereins auf der stillgelegten Schießanlage im Volkspark überwintern. Das Bezirksamt Altona hat Angst, dass jemand im Winter durch Frost oder unsachgemäße Lagerfeuer ums Leben kommen könnte. „Das ist wirklich die ganz große Ausnahme,“ sagte die neue Bezirksamtsleiterin Liane Melzer (SPD) dem NDR. „Wir haben im Moment ganz viel Mühe, Flüchtlinge aus der ganzen Welt in Altona unterzubringen.“
Doch so verlockend ist das Angebot für die Punks nicht – trotz sinkender Temperaturen und schlammigen Verhältnissen durch Regen auf dem Platz. Denn das Clubheim ist klein. Es hat zwar Sanitäreinrichtungen und ist beheizt, doch für jeden Bewohner der Gruppe sind gerade mal drei Quadratmeter Platz eingeplant. „Für einen Hund im Tierheim sind sechs Quadratmeter vorgesehen“, sagt der Altonaer Bauausschuss-Vorsitzende und Chef der Linksfraktion Robert Jarowoy trocken.
Geschlafen werden soll in doppelstöckigen Betten. Zudem befindet sich um das Haus herum in drei Metern Abstand ein Zaun, damit die Schießstände, die noch durch Munitionsrückstände der preußischen Armee kontaminiert sein könnten, nicht betreten werden – also auch nicht als Auslauf für die Hunde. „Da sind 60 Jahre lang Polizisten drauf rumgelaufen“, sagt Jarowoy mit Unverständnis.
Die Geschichte des Schießplatzes in Bahrenfeld am Volkspark reicht ins letzte Jahrhundert zurück.
Eingerichtet wurde der Schießplatz 1870 von der Altonaer Garnison, nachdem die preußische Armee mit Gewehren größerer Schussweite ausgestattet worden war.
Die Polizei der Region übernahm 1919 nach dem Abzug der Truppen aus Altona das Areal zur Schießausbildung.
Der Polizeisportverein und ein Schützenverein nutzten bis 2011 das Gelände. Seit dem 1. Januar 2012 ist Schluss mit der Ballerei.
Das umzäunte Gelände gehört der Stadt, das Clubheim wird von der Sprinkenhof AG verwaltet. Zum Wohnungsbau ist das Areal wegen der Autobahnnähe nicht geeignet, als Park ist es wegen möglicher Kontaminierung durch Munitionsreste nicht freigegeben.
Um in diesem engen Raum zu überwintern, sollen die Heranwachsenden, die sich gerade als Verein „Wildwuchs“ organisiert haben, monatlich 4.000 Euro Pacht und Betriebskosten zahlen. „Der Standard ist unter dem Niveau des kostenlosen Winternotprogramms, aber das Clubheim soll gepachtet werden wie ein Bauwagenplatz“, kritisiert Jarowoy.
Das Bezirksamt setzt den Obdachlosen aber die Pistole auf die Brust. Wenn „Wildwuchs“ nicht binnen acht Tagen den Platz an der Stresemannstraße räumt, wird geräumt, lautet das Ultimatum. Eine Räumungsverfügung nach dem Sicherheits und Ordnungsgesetz liegt nach taz-Informationen schon in der Schublade der Bezirksamtsleiterin. Begründung: „Selbstgefährdung“.
Obwohl der Polizei seit Juli ein Strafantrag der Eigentümerfirma des Geländes, Hanseatic, wegen Hausfriedensbruchs vorliegt, hat sie es bislang abgelehnt, den Platz zu räumen: Es habe daran kein öffentliches Interesse gegeben. Doch wenn der Bezirk ruft, muss die Polizei wohl räumen. Geködert werden die Punks hinter vorgehaltener Hand mit der Aussicht, wenn sie erstmal in Bahrenfeld wären, würde es niemanden kratzen, wenn der Zaun beseitigt, der Schießstand genutzt und dort ein paar Bauwagen stehen würden.
Über seinen Anwalt Andreas Beuth hat „Wildwuchs“ am Montag drei Bedingungen gestellt: eine Perspektive über den 30. April hinaus zu garantieren, den Pachtzins auf 2.000 Euro zu senken und die Erlaubnis zu bekommen, zwei Bauwagen aufstellen und zwei Hütten errichten zu dürfen – „damit überhaupt alle 35 Leute unterkommen“, sagte Anwalt Beuth der taz. Das Rechtsamt im Bezirksamt hat dem Juristen eine Prüfung der Forderungen zugesichert.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Bundeskongress der Jusos
Was Scholz von Esken lernen kann
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Eine ganz normale Woche in Deutschland