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Archiv-Artikel

Von Schnürsenkeln, Schlamm und Schlaftabletten

BOSNIENKRIEG Was passiert, wenn man mit Zerstörung als Normalität aufwächst: „Scherben“ von Ismet Prcic zerfällt zu einem literarischen Puzzle

Sie wurden alle in derselben Stadt geboren, flohen aber aus drei verschiedenen Staaten. Sie, das sind Ismet und seine Vorfahren. Die Stadt ist Tuzla, eine Industriestadt im Norden der Bundesrepublik Bosnien und Herzegowina, ehemalige Tito-Diktatur und noch ehemaligeres Königreich Jugoslawien. Der Roman „Scherben“ von Ismet Prcic könnte gar nicht anders heißen, als er heißt. Es sind kurze Sequenzen: Anekdoten eines Jugendlichen namens Ismet Prcic, der die Zerstörung als Normalität erlebt. Szenen aus dem Krieg. Ein balkanisches Durcheinander samt Festen, Flüchen, Zoten und jeder Menge Sliwowitz.

Obwohl Ismets Vater der unentschiedenste Mitläufer der Welt und seine Mutter zwar liebevoll, aber psychisch mehr als instabil ist, schafft Ismet es, sich von einem dicken Kind und absoluten Ninja-Fan in einen Halbstarken zu verwandeln, der sich erfolgreich in eine Schauspielgruppe schmuggelt. Mit dem Theaterprojekt kann er erst nach Schottland, dann nach Kroatien und schließlich in die USA ausreisen. Dort wird er zu Izzy – dessen Leben jedoch nicht einfach einfach wird, nur weil er sich rein körperlich nicht mehr im Krieg befindet.

Die Erinnerungen von Izzy vermischen sich mit denen eines Mustafa, dessen Geschichte sich zwischen die anderen Kapitel schiebt. Auch Mustafa schauspielert, wo er kann. Doch dann wird er zum Militärdienst eingezogen und erlebt Kriegsgräuel, die so grausam sind, dass man lieber schnell darüber hinwegliest. Trotzdem ist es dann Ismet, der über dem Gesehenen und Erlebten verrückt wird. Und seien es nur Bilder aus dem Fernsehen. Ein Schwein, das einen Turnschuh frisst, die Schnürsenkel wippen in der Luft. Kameraschwenk. In dem Schuh steckt der Fuß einer Leiche.

Die einen essen Schweine

Als sein Therapeut ihn bittet, alles aufzuschreiben, verwandelt Ismet sich in einen Autor. Er schreibt alles und noch mehr. Zu seiner Geschichte und der von Mustafa kommen Frauengeschichten sowie die Geschichten verschiedener Bosniaken. Die einen essen Schweine, die anderen nicht, ansonsten sind die Menschen ziemlich ähnlich. Und manchmal singen sie sogar, „bis die Farbe von der Welt schmilzt“.

Nach und nach bekommt der Text immer mehr Schichten, Scherben, Splitter, Zer- und Erbrochenes. Dazu reflektiert Ismet das Erfinden sowohl beim Schauspielern als auch beim Schreiben. Formal spielt der Roman nicht nur mit wachsenden WUMMS, wenn die Granaten einschlagen, sondern allgemein mit den Möglichkeiten der Fiktion. So werden die Tagebucheinträge immer durch Fußnoten „authentifiziert“; die Passagen sind genau datiert.

Dass Autor und Protagonist den gleichen Namen tragen, erinnert daran, dass die Absurditäten des Krieges wirklich stattgefunden haben. Aber wem nun genau was passiert ist, wird immer unwichtiger, und schließlich passiert es dem Leser selbst. Ganze Textpassagen richten sich an ein Du, sodass Du auf einmal mitten in der Nacht in den Luftschutzkeller rennst, Du im Schlamm zwischen den Fronten liegst, und Du es bist, der mit Kriegsverletzungen im Krankenhaus aufwachst.

Das ist heftig, bleibt aber ein Effekt. Bei Prcic sitzt der Leser vor den literarischen Scherben und vergisst ganz das Puzzeln vor lauter Geschichten. Wie die Romanfiguren spürt er instinktiv, dass es einen Sinn geben muss, eine Geschichte hinter den Worten. Aber: „Was ist dieses Etwas, von dem wir hoffen, dass es da draußen ist?“ CATARINA VON WEDEMEYER

Ismet Prcic: „Scherben“. Aus dem amer. Englisch von Conny Lösch. Suhrkamp Verlag, Berlin 2013. 445 Seiten, 21,95 Euro