■ Querspalte: Von Rußland nehmen
Wie oft wurde er schon ins Grab geschrieben, Rußlands Staatspräsident Boris Jelzin. Zugegeben, mit einem Bein stand er ja auch mehrmals drin, besonders vor seiner Bypassoperation. Nun jedoch zeigt sich: Jelzin hat doch noch Herz. Mit Nachschlagewerken und Materialien für den Russischunterricht will der Kremlchef die darbenden Slawistikstudenten der Berliner Humboldt-Universität beschenken. Die hatten Jelzin noch vor Weihnachten, beflügelt und berauscht von ihren Massenprotesten, einen Brief geschrieben: „Genosse Boris Nikolaewitsch, Bibliotheken leer, kein Geld, kurzum: Lage sehr schlecht, na ja, Sie wissen schon...“ Klar weiß Jelzin, schließlich bekommen in Rußland viele Arbeitnehmer ihren Monatslohn nicht in bar, sondern in Tampons, Löffeln oder Särgen ausgezahlt.
Da freut man sich doch richtig, einmal schnell und effektiv helfen zu können. Doch bei seinem humanitären Einsatz an der westlichen Philologenfront demonstriert Jelzin nicht nur Herzensstärke. Auch der Kopf scheint ihn dieses Mal nicht im Stich zu lassen. Jedenfalls hat sein Pressesprecher die angekündigte Bücherspende noch nicht unter Hinweis auf Übermüdung oder beginnende Demenz dementiert.
So ist die Drohung, daß bald tonnenweise Carepakete mit ausrangierten Skripten, Lehr- und Wörterbüchern am Flughafen Berlin-Schönefeld anlanden, also durchaus ernst zu nehmen. In Berlins Senatsverwaltung macht sich Unbehagen breit. Eine Sprecherin wiegelte sofort ab. Man solle nicht übertreiben, die Slawistikbibliothek sei hervorrgand ausgestattet. Wir haben die Message verstanden. Ist ja auch peinlich, gerade aus Rußland Spenden anzunehmen. Da kann man nur sagen: keine falsche Scham. Die haben die Verantwortlichen doch auch nicht, wenn es darum geht, unter welchen Bedingungen künftige Hochschulabsolventen ausgebildet werden. Und außerdem: Man muß mit der Zeit gehen. Nicht mehr „von Rußland lernen“, nein, „von Rußland nehmen“ heißt die neue Devise. Barbara Oertel
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