: Von Möpsen in die Flucht geschlagen
Der Ex-Exhibitionist. Wie die Karriere eines Vorzeigemannes jäh endete. Eine erschütternde Reportage
Eine Enthüllungsgeschichte hatte der mysteriöse Mann am Telefon versprochen. „Kommen Sie pünktlich nach Sonnenuntergang, ich bin dämmerungsaktiv“. Seine Stimme klang depressiv.
Treffpunkt ist eine Brücke am Stadtrand Berlins. Keine belebte Gegend. Ratlos blicke ich mich um, als etwas im Unterholz knackt und das Gebüsch vibrieren lässt. Eine fledermausartige Gestalt im Trenchcoat schießt aus dem Busch hervor. Die Hände tief in die Taschen vergraben, breitet sie zur Begrüßung beide Arme aus. Unten drunter ist sie nackt. „Aaaaarrgh …!“
„Bleiben Sie ruhig“, höre ich mich sagen. Der Schrei geht in ein Schluchzen über. Der Mann ringt nach Luft, stößt die Worte „Keine quiekt mehr!“ hervor und blickt mich vorwurfsvoll an. „Verrohte Frauen“, gurgelt der hagere Herr in den sehr späten Fünfzigern, während ich mein Tonbandgerät einschalte. Von heftigen Weinkrämpfen geschüttelt, berichtet der verbittert wirkende Mann von gemeinen Girlies und perfiden Muttis, die nicht mal einen Blick riskieren, wenn er nach Stunden oder gar Tagen des geduldigen Wartens bei Wind und Wetter an den trostlosesten Orten der Welt endlich seinen Mantel öffnete. „Aaaaarrgh …!“
Deshalb sei er nun Ex-Exhibitionist. Habe einfach resigniert. Wie viele seiner Kollegen. Schluss. Aus. „Nur manchmal mache ich eine kleine Ausnahme. Damit man im Training bleibt.“ Dann packen ihn die Erinnerungen und reißen den Ex-Exhibitionisten mit sich fort.
Früher war das Frauen-Erschrecken ein geachtetes Handwerk. Beim Anblick eines Exhibitionen sei heftig geatmet, reihenweise in Ohnmacht gefallen und mit zarter Stimme „Schutzmann“ gerufen worden. Heute hänge ja höchstens mal ein schmuddliger Zettel im nächsten Frauenzentrum „Hier in der Gegend treibt sich ein verdächtiger Mann rum. Geht mal lieber zu zweit.“ Überhaupt sei alles „scheiße gelaufen“, und dann wäre da noch die „Sache mit den Möpsen. Aaaaarrgh …!“ Es hätte sogar in der Zeitung gestanden. „Möpse einer Frau schlagen Sex-Täter in die Flucht“, erzählt der Ex-Exhibitionist mit feuerroten Ohren. Zuerst hatte er sie gar nicht bemerkt, diese fiesen, kleinen Möpse. Er hatte nur Augen für die Frau. Aber dann rief sie „fasst!“, und die beiden Viecher zerbissen ihm die Beine.
Schon früh hatte der schmächtige Junge Exhibitionist werden wollen. Lehrjahre in Norddeutschland. Der Küstenstreifen bei Husum wird sein Gebiet. Er ist noch jung und doch schon ein angesehener Mann. Spitzname: der „Deichgraf“. In den Sechzigerjahren Umzug nach Westberlin. Es ist die Zeit des Kalten Kriegs, der Agenten und Spione. Ein Paradies für Staubmantel-Träger und klandestine Aktionen.
Aber das bleibt nicht für immer so. Deutschland wird kurzerhand wiedervereinigt und der Kurzmantel eingeführt. „Es war eine einzige Katastrophe.“ Nirgendwo sind die guten Langmäntel mehr zu bekommen. Vor allem: Nach der Wende verliert er seinen Standplatz. „Dreilinden war eine Top-Adresse.“ Das Transitabkommen zwang die Reichsbahn dazu, Züge mit Generationen von westdeutschen Studentinnen an ihm vorbeifahren zu lassen. Langsam. Gaanz laaangsam. Klar, dass er sich mit den heutigen Hochgeschwindigkeitszügen überfordert fühlt. Perspektivlos geworden, sucht er Zuflucht im Alkohol. Eine Umschulung erscheint als letzter Ausweg. Und tatsächlich: Das Arbeitsamt bezahlt eine Maßnahme. „Strippen für Männer im Seniorenalter“. Aber der Ex-Exhibitionist hält das harte Training nicht durch. „Rheuma im Rumpfbereich macht mich hüftsteif.“ Wie es weiter geht? Der Ex-Exhibitionist weiß es nicht.
Es ist mittlerweile dunkel geworden. In der Schwärze der Nacht fühlt der Ex-Exhibitionist sich überflüssig. Er knöpft seinen Mantel zu und geht. Denn der letzte Zug, sagt er, kommt gleich. HEIKE RUNGE