Von Mauer zu Mauer: Austauschprogramm mit Jugendlichen aus Palästina : Die Sehnsucht nach dem Selbstverständlichen
Die 20 Jugendlichen sind Peer-Mediatoren: Sie haben Erfahrung mit gewaltfreier Konfliktlösung
Eigentlich sind sie diese Ansicht gewohnt, die zehn Jugendlichen, die am Mittwochmorgen auf den Kieselsteinen vor dem Mauerdenkmal in der Bernauer Straße sitzen. Der Referent des Mauerdenkmals vor ihnen spricht von der Teilung Deutschlands: Ein unbekanntes Land für die jungen Menschen, und trotzdem kommt ihnen einiges nur zu bekannt vor. Die Jugendlichen kommen aus Palästina, aus Ostjerusalem, Ramallah oder aus einem Flüchtlingscamp. Alle haben ihre eigenen Mauergeschichten erlebt. Nach Deutschland sind sie gekommen, um diese mit zehn gleichaltrigen Deutschen auszutauschen und zu vergleichen. Die sitzen neben ihnen.
Die jungen Palästinenser schauen etwas ungläubig auf das eingerahmte Stück der Mauer. Manchmal haken sie bei den Erläuterungen des Referenten nach und stellen praktisch orientierte Fragen: „War die Mauer immer nur so hoch?“, „Was lag zwischen den beiden Mauern?“ und „Wer hat die Grenzlinie festgelegt?“
Während des Austauschs sollen Mittel zur gewaltfreien Kommunikation entwickelt werden. Deshalb hat jeder der Gruppe eine so genannte Peer-Mediator-Ausbildung hinter sich. Diese Art der Konfliktverarbeitung setzt auf nichtautoritäre Vermittlung. Auf dem Programm der Jugendlichen stehen Workshops und Besuche, unter anderem im Konzentrationslager Sachsenhausen und bei der palästinensischen Community in Berlin.
Drei Vereine organisieren diese Aktion, die die Jugendlichen im Alter zwischen 14 und 17 Jahren für eine Woche zusammenbringt: die Jugendbildungsstätte Kaubstraße in Kreuzberg, die Bildungs- und Begegnungsstätte für gewaltfreie Aktion „Kurve“ im niedersächsischen Wustrow sowie die palästinensische Middle East Nonviolence and Democracy Organisation aus Ostjerusalem. Die Finanzierung des Austauschs war trotzdem nicht einfach: „Es gibt zwar Geld vom Bund, aber das reicht bei weitem nicht aus. Die Spender verstehen nicht, warum wir die Jugendlichen nach Deutschland holen“, sagt Stephan Clauss, der für „Kurve“ in Palästina tätig ist.
Nach der Besichtigung der deutschen Mauer schildert die palästinensische Gruppe ihren Alltag mit dem israelischen „Schutzwall“. Es ist die Geschichte einer langsamen Wucherung, die das Leben der Anwohner teilweise unmöglich macht. Auf den Bildern, die die Teilnehmer mitgebracht haben, erkennt man Kinder und Frauen, die sich in der ersten Bauphase des Schutzwalls noch zwischen den aufgestellten Betonklötzen durchdrücken konnten. Heute sind die Fugen geschlossen, und die Fotos zeigen Kinder, die an der Mauer entlang auf der Suche nach ihren Großeltern sind, die auf die andere Seite gerieten.
Meist erzählen nur die Palästinenser. Sie sprechen von einer „rassistischen Trennwand“, die die zwei Bevölkerungsgruppen teilt, mit profitorientierten Hintergedanken: Die Mauer respektiere nicht die grüne Linie, die die beiden Länder offiziell teilt, sondern schlage fruchtbares Land Israel zu. Er sei erstaunt, wie gradlinig die Berliner Mauer verlaufen sei, meint einer der Jugendlichen aus Palästina. In seinem Land seien die geometrischen Gesetze außer Kraft. Dass sich das so schnell ändern wird, glauben die Deutschen nicht. Schließlich sei, so gibt einer zu bedenken, auch der Fall der Berliner Mauer „nur wegen eines Formfehlers passiert“, sagt er mit Anspielung auf Günter Schabowskis legendäre Pressekonferenz am 9. November 1989.
Was sich die Jugendlichen aus dem Nahen Osten wünschen, ist das eigentlich Selbstverständliche: mehr und ausgewogenere Berichterstattung über die Trennwand, weniger Pro-Forma-engagement. „Die Mauererfahrung in Berlin und Palästina bringt beide Völker näher. Aber die politische Dimension der beiden Trennungen ist definitiv verschieden“, sagt einer der Palästinenser. Das zeigt auch eine kurze Diskussion: Auf einem Mauerfoto ist deutlich ein Davidstern zu erkennen, mit einem Hakenkreuz in der Mitte.
Dass die deutschen Betrachter bei diesem Anblick schockiert sind, ist für die Gäste allerdings nicht selbstverständlich. „Wenigstens haben wir das Problem erkannt“, meint Bert Schilden, der Ausbilder von Peer-Mediatoren. Jetzt gelte es in einer zweiten Phase diese Problematik in eine positive Richtung zu lenken.
LUC CAREGARI