■ Vom Nachttisch geräumt: Dritte Welt
Fast täglich sagen es Leitartikel: Der Nord-Süd-Konflikt tritt an die Stelle des Ost-West-Konfliktes. Im September-Merkur legt Siegfried Kohlhammer mir den Verdacht nahe, daß hier der eine Mythos den anderen ablöst. „Leben wir auf Kosten der Dritten Welt? Über moralische Erpressung und Edle Seelen“ heißt sein Aufsatz, der verdient hätte, Furore zu machen. Er konfrontiert gängige Ideologeme mit alten, aber selten ernst genommenen Fakten. Wie zum Beispiel wollen wir an der uns allen vertrauten Vorstellung festhalten, der Reichtum der Ersten verdanke sich der Armut der Dritten Welt, wenn 75 Prozent des Welt-Bruttosozialprodukts in den Industrieländern produziert werden – über 40 Prozent allein in den USA, Japan und Deutschland? 20 Prozent der Weltbevölkerung produzieren zwei Prozent des Welt-Bruttosozialprodukts. „Der Anteil der afrikanischen Länder (der Mehrzahl der ärmsten Entwicklungsländer) am Welthandel beträgt 2,4 Prozent – wobei ein Fünftel aus Südafrika stammt, über dessen Ausbeutung bislang noch keine Klagen laut geworden sind.“
Die Verschlechterung der terms of trade, der Verbilligung also der Rohstoffe und Nahrungsmittel, wird oft als eines der gravierendsten Ausbeutungsmittel beschrieben. Aber am stärksten war davon der größte Exporteur solcher Produkte, die USA, betroffen. Von allen Entwicklungsländern haben nur zwei Ländergruppen einen Rohstoffanteil von mehr als 50 Prozent: die Golfstaaten und die Subsahara-Länder. Außerdem, daran erinnert Kohlhammer, die Preise vieler hochindustrieller Erzeugnisse – Computer, Kommunikationstechnologie – fallen viel stärker als die von Rohstoffen.
Die Theorie von der systematischen Ausbeutung der Dritten Welt durch die derzeitige Weltwirtschaftsordnung, so legt Kohlhammer nahe, hat nur ein Ziel: die Eliten der Entwicklungsländer zu entlasten. Nicht sie verhindern angeblich, daß ihre Bevölkerungen anständig ernährt und gekleidet sind, sondern die Ausbeuter der Industriestaaten, die die Bösen sind, wenn sie der Dritten Welt Kredite geben – „Schuldenspirale“ –, die aber noch böser sind, wenn sie keine geben.
Siegfried Kohlhammer: „Leben wir auf Kosten der Dritten Welt?“ In Merkur, Heft 9/10, 1992, 22 DM
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