: Vom Frommen des Irrtums
■ Christlich ist, um „Gottes Willen“ den eigenen Standpunkt verlassen
Pastoren lassen sich grob in zwei Gruppen unterteilen. Die einen sind die Verkünder. Mit Inbrunst schleudern sie allsonntäglich den Gläubigen die Donnerworte ihrer ewigen Wahrheiten entgegen. Mit der Gewißheit der heiligen Schrift im Rücken und der autorisierenden Kraft der Kanzel unter den Füßen stemmen sie sich gegen den zersetzenden Fraß der Zeit an den großen Werten des Christentums. Missionare ihrer eigenen Selbstgewißheiten, Aufhalter eines imaginären Verfalls, Architekten moralischer Scheidewände zwischen gut und böse, richtig und falsch. Aussagesatzbildner.
Auf der anderen Seite sind die Philosophen. Grübelnde Zweifler - nicht aus weltschmerzhafter Zerknirschung, sondern aus frommem Vergnügen an geistigen Suchbewegungen. Zu ihnen gehört Pastor Lohse in „Unser lieben Frauen“. Ein Dialektiker auf der Kanzel, ein theologischer Pfiffikus, ein sokratischer Wolf im Schafstalar, der die übrigen Schäflein mit liebenswerter Schlitzohrigkeit bei den scheinbar einfachsten Wahrheiten großer Bibelworte packt, um sie unversehens in den kleinen Aporien ihres Alltagsbewußtseins auf dem falschen Fuß zu erwischen. Und zwar alle, nicht nur die, die gerade nicht seiner Meinung sind. Denn: Um „seine Meinung“ (das, was manche Pastoren (s.o.) gern “ ihren Glauben“ nennen) geht es Lohse am allerwenigsten. Für Pastor Lohse ist Christentum kein Regelwerk von Wahrheiten, sondern eine Chance, Platz zu schaffen, Platz zum Denken von Überraschendem, zum Tun von Ungehörigem. Spielraumerweiterungen.
Dabei geht es nicht etwa klammheimlich-hinterrücks zu, wenn Lohse von der scheinbar harmlos-fernen Unverbindlichkeit eines Paulus-Briefs an die Korinther auf einmal mitten in gefährlich kontroversen Abtreibungsdebatten oder bei den Modalitäten der deutschen Einigung landet. Lohses Predigten sind gestische Abbilder seiner raumgreifenden Kopfbewegungen. Wie im brechtschen Theater: Jeder Vergleich ist angekündigt, jedes Argument überprüfbar, der Zweifel eingebaut, der gesamte Predigttext angreifbar.
Wenn es eine große Botschaft des Lieben-Frauen-Predigers gibt, dann liegt sie nicht so sehr in dem, was er sagt, sondern in dem, wie er's sagt.
Wie übersetzte Lohse doch gleich die Paulus‘ Botschaft an die Korinther - frei gegen die Rechthaberei von AbtreibungsgegnerInnen, Wiedervereinigungs-Patentrezepte -Inhaber und selbstmitleidige Beziehungskisten-Opfer: „Wer sich an Gott hält, hält sich an die Menschen. Und umgekehrt: Je näher einer den Menschen ist, desto näher ist er Gott. Christentum heißt 'um Gottes willen‘ den eigenen Standpunkt verlassen.“
Klaus Schloesser
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