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Vom Detail erschlagen

■ Quellenkompendium über die NS in der Wesermarsch

„Grabe, wo du stehst“, lautet der Wahlspruch der Alltagshistoriker. Er sollte um eine Einschränkung erweitert werden: „Schmeiß den Schrott weg, den du dabei findest.“

Dem neuen, zweiten Kompendium mit NS-Zeugnissen aus der Wesermarsch, das Julius Schreckenberg im Selbstverlag herausgegeben hat, verdient eine solche Einschränkung. Viele Anekdoten aus dem Soldaten- , Privat- und Parteileben hätten dann womöglich nie das Licht der Öffentlichkeit erblickt, allein: Es hätte nicht geschadet.

Zum Beispiel dieser Brief von der Front: „Vier Elsflether haben sich hier getroffen: Theo Möhring, Hinnerk Thümler, Becker und ich. Becker ist der Schwiegersohn von Trentepohl in der Mühlenstraße, und nun stellt Euch vor: Das dicke Pferd von Trentepohl ist in derselben Batterie, und das hat jetzt Becker.“

„Auf die Sache kommt es an“, schreibt Herausgeber Schreckenberg in seinem Vorwort, doch die Sache, das Leben im Nationalsozialismus, liegt unter Details vergraben.

Zwölf Zeitzeugen kommen in diesen 100 Seiten entweder selbst oder in Beschreibungen zu Wort und in Erinnerung. Johann Müller, erster Bürgermeister von Nordenham nach dem Krieg, wird auf elf Seiten nicht müde, die Geschichte des Nationalsozialismus als die Geschichte seines persönlichen Widerstandes zu erzählen. Kommentarlos und ohne Zusammenhang, teilweise ohne oder mit falschen Zeitangaben, wird da ein Auftritt von Carl Röver geschildert, dem Gauleiter Weser-Ems. Im Mittelpunkt steht die Beschreibung des dicken PG, wie er im Laufe seiner Rede ins Schwitzen gerät, die Jacke auszieht und Hemdsärmel hochkrempelt.

Die zwölf Zeitzeugen sind ihrer Geschichte nach bunt zusammengewürfelt. Vom Jungen, der mit 16 freiwillig zur Waffen-SS geht und nichts von den Morden an den Juden mitbekommen haben will bis zum gestandenen Major, der seinen Kinder per Feldpost übermittelt, wie er gerade die jungen Soldaten durch „einen Tritt in den Arsch“ aufmuntert, bevor sie ins Sperrfeuer müssen, hat jeder hier seinen persönlichen Erlebnissenf dazugegeben.

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