: Vom Baum fallen, einfach so
Die Hamburger Kunsthalle widmet dem niederländisch-amerikanischen Künstler Bas Jan Ader, der vor 50 Jahren auf einer Segeltour verschwand, eine berührende Ausstellung
Von Frank Keil
Wie lange kann man sich an einem Ast festhalten, den Körper vom eigenen Gewicht in die Länge gestreckt? 20 Sekunden, 30 Sekunden, eine Minute? Und wie ist der Mann, der jung und kräftig aussieht, überhaupt auf den Baum gekommen und wie hat er sich zu dem Ast gehangelt, an dem er nun in drei, vier Metern Höhe hängt? Was hat er gedacht, als ihn langsam die Kräfte verließen? War da Erleichterung oder hat er sich nochmal zusammengerissen, die Hände um den Ast gepresst und gedacht: ‚Das muss doch zu schaffen sein!‘? Bis es nicht mehr ging und er ungebremst in den schmalen Bach fiel, der unter ihm floss.
„Broken Fall (organic)“ von Bas Jan Ader ist eine Arbeit, die einen körperlich packt. Dokumentiert auf Film, 16 Millimeter, Schwarz-weiß, 144 Minuten lang, entstanden 1971. Der Film mit dem Mann im Baum ist einer von vier kurzen Filmen, in denen der Künstler immer wieder fällt und fällt, mal von einem Hausdach, mal fährt er mit dem Fahrrad ungebremst in eine Gracht, mal fällt er stehend aus eigener Kraft einfach um. Dieser Werkzyklus ist nicht der einzige Höhepunkt in der sagenhaft guten Ausstellung „I’m searching …“, in der Hamburger Kunsthalle.
Knapp 20 Jahre ist es her, dass die letzte große monografische Ausstellung von Bas Jan Ader zu sehen war, in Rotterdam war das. Und genau 50 Jahre ist es her, dass der zuletzt niederländisch-amerikanische Künstler in sein Segelboot „Ocean Wave“ stieg, hinaus auf den Atlantik segelte, um ihn ostwärts Richtung Europa zu überqueren: Gedacht war die Überfahrt als zweiter Teil eines Projektes mit dem Titel „In search of the miraculous“; als dritter Teil sollte unter anderem eine Dokumentation der Überfahrt als Ausstellung im Groninger Museum folgen.
Aber er sollte nie ankommen. Nur sein Boot wurde leckgeschlagen Monate später entdeckt. „Es war gewagt, es war abenteuerlich, aber es war kein Selbstmordunternehmen“, sagt Kuratorin Brigitte Kölle. „Der Künstler war ein erfahrener Segler, er hatte die Tour monatelang genauestens vorbereitet, und er war guten Mutes.“ Zugleich ist damit angesichts seiner Arbeiten zu den Themen Scheitern, Fallen und Kontrollverlust eine Verknüpfung von Werk und Lebensende angelegt, die nicht ohne Weiteres aus der Welt zu schaffen ist.
Bas Jan Ader wurde 1942 in der Kleinstadt Winschoten bei Groningen in eine evangelikale Familie hineingeboren; Letzteres ist in den Niederlanden nicht ungewöhnlich. Er verlor seinen Vater Bastiaan Jan Ader, als Zweijähriger: Der, Prediger von Beruf und Berufung her, war im Widerstand gegen die Deutschen, gegen die Nazis, die ihn schließlich erwischten und in einem Waldstück erschossen.
Vaterlos also wuchs Bas Jan Ader auf, wollte Künstler werden, das wusste er von Anfang an. Mit 14 Jahren verließ er Mutter und jüngeren Bruder, lebte lieber in Internaten, 1959 besuchte er die Kunstgewerbeschule in Amsterdam. Drei Jahre später ging er nach Kalifornien, studierte in Los Angelos Kunst und heiratete bald. Seine Frau Marie Sue Ader Anderson fotografierte später etliche seiner Arbeiten; vorzugsweise dann, wenn es ihren Mann ans Wasser zog.
Die Ausstellung Bas Jan Ader – „I‘m searching“ ist noch bis 24. 8. in der Hamburger Kunsthalle zu sehen.
Überhaupt das Meer, die Küste, der Horizont und dazu der Mann: Immer wieder stellt sich Bas Jan Ader an den Küstensaum, besonders bei Sonnenuntergang, und er schaut in die Ferne, wohin es geht und ob von dort etwas kommt, in immer ähnlichen Bildern. „Bas Jan Ader ist eingebunden in die Konzeptkunst der 1970er-Jahre, aber es findet sich in seinem Werk eine große Emotionalität – und das ist selten: die Gleichzeitigkeit von Konzept und Emotion; dass die Bildsprache der Emotion als Konzept zu verstehen ist“, sagt Kuratorin Kölle.
Und dann gibt es noch die besondere Arbeit „Untitled (Sweden)“, eine Zweier-Foto-Projektion: Bas Jan Ader steht in einem Waldstück, als kleine, aber noch erkennbare Figur zwischen hohen Bäumen; im Bild daneben ist er im Wald fast verschwunden und muss gesucht werden.
„Es gibt immer wieder einzelne Arbeiten, in denen er anfängt, sich mit dem stereotypen Bild von Männlichkeit zu beschäftigen, auch in dem er sich verletzlich zeigt“, sagt auch Volontärin Julia Kersting, die die Ausstellung mit kuratiert hat. Und dann muss man einfach weitergehen in den Raum, wo seine Film-Arbeit „I’m too sad to tell you“ zu sehen ist: Bas Jan Ader, genauer: sein Gesicht ist zu sehen, das weint. Wir sehen zu, wie ihm Tränen über das Gesicht laufen, wie er den Kopf hin und her bewegt; um Fassung ringt und mit sich einer Hand durchs Haar streicht.
Kein Ton ist zu hören, kein Atmen und kein Schluchzen; kein noch so verschlucktes Wort, das erklären könnte, warum hier jemand weint, was der Grund ist und wie man das Weinen womöglich stoppen könnte. Doch der, der sich zeigt, ist einfach zu traurig, um sich zu erklären, und er nimmt sich alles Recht der Welt, so zu sein und als Werk so zu bleiben, ein Statement, von nun an gültig.
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