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■ BuchtipVom Adler verfolgt

Haben Sie sich schon einmal vor dem Adler in Ihrem Reisepaß gefürchtet? „Seine Krallen ragten heraus, sein Gefieder war gespreizt, und sein Hackschnabel befand sich in martialischer Haltung. Wahrhaft kein schöner Anblick! Ich dachte mir, gerade Deutschland dürfte sich einen solchen Vogel nicht leisten, der die ganze Welt bereist.“ So schildert der frisch eingebürgerte marokkanische Ich-Erzähler seine erste Paß-Betrachtungen in dem Buch „Heidelberg – Marrakesch, einfach“ von Fawzi Boubia.

Von den ästhetischen Problemen mit dem furchterregenden Vogel einmal abgesehen ist der Protagonist zunächst voller Einbürgerungseuphorie, die jedoch nicht lange anhält. Denn kaum hat er das neuerworbene Bundesdokument in den Händen, befallen ihn nicht nur Verfolgungsvisionen, in denen indianerähnliche Berber ihn quer durch das Atlasgebirge hetzen und des Vaterlandsverrats bezichtigen. Sondern an jenem Dienstag seiner Einbürgerung ereignet sich auch der Brandanschlag in Solingen. Verwirrt und erschüttert beschließt der Erzähler, Deutschland für immer zu verlassen.

„Heidelberg – Marrakkesch, einfach“ ist das literarische Debüt des in Deutschland und Marrokko lebenden Kulturwissenschaftlers Fawzi Boubia. Die moralische Mahnung seiner „Literatur post Solingen“ erdrückt ein wenig, und in der Tat sind die Stellen, an denen der Autor seine Betroffenheit über die rassistischen Morde explizit zum Ausdruck bringt, die schwächsten des Romans. Doch die eigentliche Botschaft ist vielschichtiger. Boubia ist dem Gründungsmythos deutscher Identität auf der Spur. Und das legt der Kulturwisenschaftler sehr geschickt an, indem er das Wesentliche von der Handlung (Erzählzeit: ein Tag) in innere Monologe verlegt. Charmant wird da zunächst von der amour fou eines Marokkaners zur deutschen Sprache erzählt, vom Idealbild der toleranten Kulturnation Goethes, das den Nordafrikaner zum Studium nach Heidelberg, an den Kulturort deutscher Kulturgeschichte, lockt.

Mit dem Brandanschlag zerbricht die Deutschlandidylle, er setzt das häßliche Zerrbild Heidelbergs als Ort der dunklen deutschen Geschichte frei. Mit dem Kunstgriff des Flashbacks macht der Autor seinen Protagonisten zum Zeitzeugen Hegelscher Vorlesungen und der Heidelberger Kristallnacht. So entsteht über zahlreiche kulturgeschichtliche Episoden hinweg die Widersprüchlichkeit der Deutschlandbilder. Sie oszilliert zwischen Kant und Hegel, Goethe und den Autoren des Heidelberger Manifests, islamischer und deutscher Philosophie. Intelligent, geistreich und ironisch wird der Leser an den Gründungsmythos deutscher Identität herangeführt. Der unterhaltsame Roman ist seit langem das Beste, was Migrationsliteratur zu diesem Thema hervorgebracht hat. Karin Yeșilada

Fawzi Boubia: „Heidelberg – Marrakesch, einfach“. Verlag Donata Kinzelbach, Mainz 1996, 34 DM

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