: Voller Stärken, voller Schwächen
Margot Käßmann hat einen steilen Aufstieg hinter sich, der auch durch Schicksalsschläge nicht gestoppt wurde. Für die Spitze des deutschen Protestantismus kandidiert sie zum zweiten Mal
■ 3. Juni 1958: Margot Käßmann wird als Tochter einer Krankenschwester und eines Kfz-Schlossers in Marburg an der Lahn geboren. Sie wächst mit zwei Schwestern und einer Oma nach ihren eigenen Worten „in einem Frauenhaushalt“ auf. Als Margot Käßmann 16 Jahre alt ist, stirbt ihr Vater.
■ 24. Juli 1983: Vollversammlung des Weltkirchenrates in Vancouver. Käßmann wird, gerade mal 25 Jahre alt, als jüngstes Mitglied in den Zentralausschuss des Ökumenischen Rates der Kirchen (ÖRK) gewählt. Erst zwei Jahre später wird sie zur Pfarrerin ordiniert. 1995 wird sie Generalsekretärin des Deutschen Evangelischen Kirchentages.
■ 6. Juni 1999: Die Synode der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Hannover wählt Margot Käßmann im dritten Wahlgang mit drei Stimmen Mehrheit zur Bischöfin der größten Landeskirche Deutschlands. Sie ist nach Maria Jepsen in Hamburg erst die zweite Frau in dieser Position. (ges)
AUS ULM PHILIPP GESSLER
Nur jetzt keinen Fehler machen! Es kommen die vielleicht entscheidenden fünf Minuten im Leben der Margot Käßmann. Die Bischöfin der Hannover’schen Landeskirche weiß es, das Publikum weiß es. Es ist mucksmäuschenstill im Saal. Die 51-Jährige, gekleidet in ein graues Kostüm, betritt am Sonntagabend in Ulm die Bühne der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD). Fünf Minuten hat sie, um sich vor den 126 Kirchenparlamentariern für einen Sitz im Rat der EKD zu bewerben. Glückt die Rede, wird sie aller Voraussicht nach am morgigen Mittwoch als Nachfolgerin Wolfgang Hubers an die Spitze des deutschen Protestantismus gewählt. Der Ratsvorsitz. Als erste Frau. Käßmann muss den schmalen Grat gehen zwischen Leichtigkeit und Tiefe, Ernsthaftigkeit und Show.
Aber wer ist Margot Käßmann fernab dieser Show? Wer das herausfinden will, muss nach Hannover fahren in die Bischofskanzlei, wo Käßmann seit nun mehr als zehn Jahren arbeitet und auch wohnt. Zuerst mit Mann und vier Töchtern, jetzt ohne Mann und nur noch einer Tochter, die älteren sind schon ausgezogen. Es ist ein recht eleganter Fünfzigerjahrebau mit Garten. Am Eingang ist ein Klingelknopf mit der Aufschrift „Käßmann privat“. Ganz nahe ist der Maschsee, um den die Bischöfin mit ihrem Hund Leo, einer Art Husky aus dem Tierheim, joggt.
Der Dienstag der vergangenen Woche ist der letzte normale Arbeitstag vor dem großen Synode-Marathon. Neben ihrem geräumigen Büro mit Blick auf den Garten und einem Schaukelgestell aus Holz ohne Schaukel findet eine Pressekonferenz der Bischöfin statt. Dabei ist der „Beauftragte der Norddeutschen Kirchen für den NDR“ und zwei der „Prinzen“. Die Popsänger aus Leipzig waren früher Thomaner, also in dem Kinderchor der Thomaskirche, der nur die urprotestantischen Werke Bachs sang. Es geht um einen Fernsehgottesdienst mit den „Prinzen“, der am Reformationstag, am 31. Oktober, live gesendet werden soll.
Käßmann erscheint in einem kleinen Schwarzen mit schwarzen Strümpfen und schwarzen Schuhen, was gut mit ihren pechschwarzen Haaren harmoniert. Klein wirkt sie, zart und auch ein wenig zerbrechlich. Die Schicksalsschläge der vergangenen Jahre, eine Brustkrebsdiagnose und die Scheidung von ihrem Mann, haben ihrem Gesicht die Jugendlichkeit geraubt. Es ist nun durch mehr Härte, vielleicht aber auch durch mehr Würde gezeichnet. Nur wenn sie lächelt, ist das alte Strahlen wieder da.
Neben der Bischöfin wirken die beiden „Prinzen“ blass, Margot Käßmann dominiert das Gespräch und versucht eifrig, dem geplanten Show-Gottesdienst so viel protestantischen Ernst wie möglich abzuringen. Sie lächelt tapfer und schweigt, als Sänger Sebastian Krumbiegel von den „Prinzen“ sagt, dass seine Band „die Kirche auch als Bühne wiederentdeckt“ habe, doch Glaube und Kirche „zwei völlig verschiedene Sachen“ seien.
Der deutsche Protestantismus hat sich auf die moderne Welt, ja den Zeitgeist weit – viele meinen: zu weit – eingelassen. Dieses Weltzugewandte ist die Stärke der evangelischen Kirche und Käßmanns, aber auch beider Schwäche. „Hallo Luther“, kumpelt ein Stehplakat hinter der Bischöfin die Journalisten an. Darauf ist Martin Luther als eine augenzwinkernde Comicfigur mit weißer Rose in der Hand zu bewundern – schon cool, dieser Reformator. Auf den Tischen liegen „Lutherbonbons“ und „Lutherkekse“, original aus Wittenberg, beide Verpackungen in Orange gehalten, um Halloween, kürbisfarben und sehr populär, etwas entgegenzuhalten. Das Kinderfest findet am Reformationstag statt und ist der Bischöfin schon lange ein Dorn im Auge.
Die Kamera liebt Käßmann, sie ist ein Medienprofi. Mit Engelsgeduld wiederholt sie im Garten ein Fotoshooting, weil dem Fotografen ein noch besseres Motiv eingefallen ist. Einer TV-Journalistin beantwortet die Bischöfin lächelnd zweimal die gleichen Fragen, weil die Reporterin beim ersten Take den Ton vergessen hatte. Fragen oder gar Bitten um ein Interview zum möglichen Ratsvorsitz jedoch bügeln die Presseleute Käßmanns und auch sie selbst sowohl hier wie am Telefon seit Wochen konsequent ab. Es ist wie in der Politik. Manchmal darf man gar nichts sagen, wenn man an die Spitze will. Das gilt besonders in der Kirche, wo nach außen getragene Demut zur Stellenbeschreibung zählt.
Strikte Selbstkontrolle
Diese strikte Selbstkontrolle und das öffentliche Schweigen fallen Käßmann sichtlich schwer, denn gerade Spontaneität und das offene Gespräch sind ihre Stärken, ja Bedürfnisse. Dies macht einen Teil des Charismas aus, über das die Bischöfin verfügt – Charisma im politischen Sinne als Anerkennung nach Max Weber wie im biblischen Sinne als Gnadengabe nach Paulus. In manchem gleicht sie Joschka Fischer, dem letzten großen Charismatiker der deutschen Politik: Wie beim früheren Außenminister fasziniert die Menschen bei Käßmann das Ineinandergreifen von Privatem und Öffentlichem, Person und Politik, ja Körper und Geist. Sein radikales Abspecken, seine jungen Frauen und seine flammende Rede mit geplatztem Trommelfell im rot besudelten Jackett, so gewann Fischer Popularität – bei Käßmann sind es die öffentlich gemachte Krebsdiagnose, die Scheidung von ihrem Mann und in Buchdeckeln selbst thematisierte Beschwerden der Wechseljahre, die ihrem Ansehen eher halfen als schadeten. Die Menschen lieben Helden mit all den Brüchen des Lebens, die sie selber kennen.
Hinzu kommen Mut, Fleiß und eine gewisse Brillanz, die einigen Kirchenoberen bei Käßmann schon früh auffiel. Als ganz junge Vikarin errang sie in einer Art Coup einen Sitz im Zentralausschuss des Ökumenischen Rates der Kirchen, es war ein Traumstart. Schon als 41-Jährige gelangte sie an die Spitze der größten Landeskirche Deutschlands – übrigens als zweite Frau bundesweit. Vor sechs Jahren wäre sie in Trier beinahe sogar die erste EKD-Ratsvorsitzende geworden. Aber damals wollte die Mehrheit der Kirchenparlamentarier die Himmelsstürmerin noch ein wenig deckeln. Vielen war sie schon damals zu populär, fast eine Todsünde im etwas verkniffenen deutschen Protestantismus.
Dennoch: Irgendwie lieben sie die Leute. Die enorme Wirkung Käßmanns auf die Menschen ist an diesem Dienstag auch auf der „Infa“ zu erleben, einer als „Hausfrauenmesse“ belächelten Veranstaltung in den Messehallen von Hannover. Käßmann sitzt als eine von sechs Diskussionsteilnehmern während des „zweiten Teils des heutigen Friedhoftages“, wie der Moderator sagt, im „Forum Naturstein“ der deutschen Steinmetz-Innung. Sie soll Christliches und Kluges zur Beerdigungskultur beitragen, während das Kreischen einer Motorsäge und der Lärm eines Bohrers immer wieder die pietätvolle Stimmung stören.
Zwischen Sprudelwannen, Vordächern und Gartenmöbeln aus Rattan klatschen die meist weißhaarigen Zuhörer lange Zeit nur über das, was die Bischöfin sagt, etwa wenn sie „das Recht auf eine würdige Bestattung“, ja das Recht auf eine Sargbeisetzung auch für Hartz-IV-Empfänger unterstreicht. „Heimat ist da, wo wir die Namen der Toten kennen“, zitiert sie den Theologen Fulbert Steffensky – und das wirkt nicht aufgesetzt, sondern lebensnah, erfahrungssatt.
Am Abend ist die Bischöfin der Ehrengast einer weiteren Podiumsdiskussion in der evangelischen Jugendwerkstatt von Hameln. Hier erhalten straffällig gewordene junge Menschen – manche von ihnen wurden wegen Totschlags verknackt – eine Ausbildung. Es ist deren letzte Chance. Käßmann stellt ihr neuestes von etwa einem Dutzend Büchern vor, einen kleinen Band über die Zehn Gebote. Auch hier dominiert sie die Runde, wagt ab und zu mal einen Witz, ist ohne Mühe geistreicher und spritziger als alle anderen zusammen.
Gebot als Ratschlag
Zugleich sagt sie Befremdliches, das aber niemanden hier in dieser Runde saturierter Bürger samt Gattinnen zu stören scheint. So betont sie etwa, die Zehn Gebote seien keineswegs als scharfe Verbote, sondern eher als Freiheiten und Ratschläge Gottes für ein gutes Leben zu verstehen. Die Pazifistin Käßmann interpretiert das glasklare Tötungsverbot „Du sollst nicht töten“ als „ein Gebot zum Schutz des Lebens zuallererst“. Auch mit einem „strafenden Vatergott“ kann sie wenig anfangen. Zu all dem passt der Titel „Du darfst“, was für ein Buch über die Zehn Gebote mindestens originell, wenn nicht frech ist. Die protestantischen Kirchen in Deutschland neigen nicht selten dazu, die Zumutungen, das Sperrige der Bibel weichzubügeln oder in politisch korrekter Sprache wegzudefinieren. Und Käßmann ist da nicht ganz unschuldig. Oder trifft hier das Wort Schuld nicht?
In Ulm sind die fünf Minuten der Margot Käßmann vergangen, schnell wie im Flug. Mit sicherer, gelassener Stimme hat die Bischöfin wichtige Stationen ihres Lebens geschildert, eine Perspektive für die Zukunft der Kirche aufgezeigt, Paulus zitiert. Mutig hat sie die Scheidung erwähnt, gar ein Witzchen gewagt. Ein paar Journalisten haben die Zeit gestoppt, wie lange der Applaus andauerte: 20 Sekunden, fast doppelt so lange wie bei den anderen Rednern. Auf den Fluren zeigen sich die meisten sicher: Damit ist Käßmann durch. Sie durfte keinen Fehler machen. Sie hat keinen Fehler gemacht.