Volkspartei in der Berliner Mitte: Die Grünen machen sich breit
Die Berliner Grünen eilen von Wahlsieg zu Wahlsieg. Bei den Europawahlen lagen sie schon vor der SPD. Sind die Ex-Bürgerschrecke auf dem Weg zur Volkspartei?
Rasant wie ein Porsche eilen die Grünen von Wahlsieg zu Wahlsieg. Bei der Europawahl im Juni landeten sie in Berlin mit 23,6 Prozent nur knapp hinter der CDU, die auf 24,3 Prozent kam. Und für die Bundestagswahl an diesem Sonntag sagen Meinungsforscher voraus, dass knapp 20 Prozent der Hauptstadt-Wähler Grün ankreuzen. Die aus Berlin stammende Spitzenkandidatin Renate Künast jubiliert: "Das neue Bürgertum wählt grün."
Auch manche Grüne wählen neuerdings bürgerlich. Fast schon Legende ist der Spruch des Fraktionsvorsitzenden im Berliner Abgeordnetenhaus, Volker Ratzmann, für Porschefahrer dürfe es in Kreuzberg keine No-go-Areas geben (siehe unten). Autoabfackeln mögen die Grünen nicht, zumindest nicht einer wie Ratzmann, der bei der Landtagswahl 2005 im schicken Prenzlauer Berg ein Direktmandat holte. Wie breit die Grünen inhaltlich aufgestellt sind, zeigt der Vergleich mit Friedrichshain-Kreuzberg. In der Homezone von Altstar Christian Ströbele setzen die Grünen ganz andere Akzente. Hier hat sich die Partei inzwischen auf die Seite der alternativen und autonomen Gegner des Neubauprojektes "Mediaspree" geschlagen. Die Kluft zwischen Pankow und Kreuzberg ist so enorm, dass SPD-Landeschef Michael Müller fast die Luft wegbleibt: "Da kann Ratzmann reden wie einer von der CDU und die Kreuzberger machen linke Politik, und trotzdem schadet das dem Image nicht."
Stefan Gelbhaar, einer der beiden Landesvorsitzenden, formuliert das anders. "Wenn man wirklich von einer grünen Volkspartei spricht, dann heißt das auch, dass in ihr eine große Zahl von Positionen zu Hause sind." Seine Co-Vorsitzende Irmgard Franke-Dressler sagt, Pankow und Kreuzberg stünden nicht für ein Gegeneinander, sondern für ein "sowohl als auch".
In beiden Bezirken waren die Grünen bei den Europawahlen stärkste Partei. In Friedrichshain-Kreuzberg kamen sie auf 43,1 Prozent. Obwohl Ströbele gar nicht kandidierte. Auch ohne ihre Ikone sind die Grünen im alternativen Milieu also stabil.
In Pankow erzielten die Grünen 29,1 Prozent und lagen damit noch vor der Linken mit 22,8 Prozent und der SPD mit 17,2 Prozent. Nicht nur in ihren Hochburgen am Kollwitz- und Helmholtzplatz punkteten die Grünen, sondern auch im bürgerlichen Alt-Pankow und den Neubauvierteln, die nach der Wende am Stadtrand entstanden.
Wie lange geht das Wachstum weiter? Parteichef Gelbhaar verweist auf eine Studie aus dem Jahre 2003. Demzufolge könnten sich in Berlin bis zu 35 Prozent der Wähler und Wählerinnen vorstellen, Grün zu wählen. Volkspartei? Ja, bitte!
Ganz anders sehen das Parteienforscher. "Die Grünen sind keine Volkspartei", meint der FU-Politologe Gero Neugebauer. "In bestimmten, auch gut verdienenden Milieus machen die keinen Stich." Neugebauer fragt sich aber auch, ob die Grünen gut beraten seien, eine Volkspartei werden zu wollen. "Eine Volkspartei stößt keine Reformen mehr an, sondern reagiert nur auf Veränderung." Ein hoher Preis für die Grünen, meint der Politologe. Es sei denn, sie wollten die Partei des neuen Bürgertums werden, die sich von der CDU nur noch in den Wertvorstellungen unterscheide.
So wachsen die Grünen derzeit nicht nur, sie stehen auch vor einem Dilemma. Wachsen sie weiter, werden sie nicht mehr unterscheidbar. Wachsen sie nicht mehr, kann es mit dem Stillhalteabkommen zwischen dem grünen Pankow und dem grünen Kreuzberg bald zu Ende sein. Wachstum, das lehrt die Wirtschaft, bedient alle. In der Rezession beginnen die Verteilungskämpfe.
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