: Volkskrankheit: Schizophrenie
■ Die sowjetische Zeitung Komsomolskaja Prawda veröffentlichte Artikel über umfangreichen Mißbrauch und katastrophale Zustände in sowjetischer Psychiatrie / Änderungsgesetze stoßen auf Widerstand
Moskau (dpa) - In der Sowjetunion kann praktisch jeder Gesunde mit der Diagnose „Schizophrenie“ in eine psychiatrische Klinik eingewiesen werden. Zu dieser Schlußfolgerung kam die sowjetische Zeitung Komsomolskaja Prawda am Mittwoch in einem Artikel, der erstmals Details eines umfangreichen Mißbrauchs und der haarsträubenden Zustände in der sowjetischen Psychiatrie schildert. Nach einem 1985 erschienenen Handbuch für Psychiatrie zählen zu den Symptomen der „Schizophrenie“ unter anderem „Schlampigkeit, Freßsucht, Hyperaktivität, Selbstüberschätzung, Zerstreutheit, Empfindlichkeit, Launenhaftigkeit, Minderwertigkeitskomplexe“. Damit könne man praktisch jeden Menschen für schizophren erklären, „der nach normalen Vorstellungen gesund ist“. „Und davon gibt es eine Menge von Beispielen“, schrieb die Zeitung. So sei eine 20jährige Arbeiterin aus Leningrad auf Betreiben ihrer Betriebsleitung in eine Klinik eingewiesen worden, weil sie „Konflikten mit der Betriebsleitung nicht aus dem Wege gegangen ist und immer die Wahrheit gesucht hat“. In der Zeitung heißt es weiter, daß nach sowjetischen Lehrbuch– Kriterien auch Sowjetbürger für schizophren erklärt werden können, die „ein besonderes Interesse für philosophische Systeme, Religion und Kunst entwickelten“. Die Moskauer Psychiaterschule diagnostiziere bereits eine „milde Paranoia“ bei einem „ausgeprägten Gerechtigkeitssinn, Gradlinigkeit, fanatischer Hartnäckigkeit verbunden mit Querulanz (Kampf für die Wahrheit)“. Auch die Zustände in den Kliniken selbst sind nach dem Bericht der Zeitung unglaublich. So seien in der psychiatrischen Klinik Nr.3 in Moskau, die vor rund 180 Jahren gebaut wurde, statt sechs Patienten zwölf bis 14 Kranke in einem Raum untergebracht. In Krankenhäusern der Provinz müßten viele Kranke in Viehställen arbeiten. Statt Toiletten würden Kübel benutzt, die Heizungen funktionierten schlecht. Weiter schrieb das Blatt, die Ärzte seien ungenügend qualifiziert und beherrschten moderne psychotherapeutische Methoden nicht. Änderungen der Zustände in der Psychiatrie, für die in Moskau vor zweieinhalb Jahren eine besondere Gruppe innerhalb der Staatsanwaltschaft eingesetzt worden sei, stoßen nach den Angaben der Zeitung auf erhebliche Widerstände.
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