: Volksfront gegen das Böse
aus London DOMINIC JOHNSON
Bernhard Herzberg war 23 Jahre alt, als er Deutschland verließ. Nach Hitlers Machtergreifung floh der deutsche Jude nach Südafrika, diente in der dortigen Armee und ließ sich nieder, bis er 1985 zum Höhepunkt der Apartheid-Unterdrückung nach Großbritannien zog. Da war der pensionierte Pharmavertreter schon 76 und bereitete sich auf einen geruhsamen Lebensabend vor. Heute ist er 93 und steht mit Flugblättern am zentralen Platz des Londoner Stadtteils Muswell Hill. Im grauen Anzug und weißen Hemd gekleidet, verwickelt er überraschte Passanten in Gespräche und drängt sie, eine Petition an Tony Blair gegen den Irakkrieg zu unterschreiben. „Dieser Krieg ist ein Verbrechen“, sagt er und blickt entschlossen durch seine Brille mit dicken Gläsern.
Muswell Hill, auf einem zuweilen sehr steilen Hügel im Norden Londons mit wunderbaren Ausblicken auf die Hochhäuser des Zentrums gelegen, ist eine Gegend verträumter Villenstraßen ohne Protz, wo Leute am Kneipentresen Bücher lesen und Morgennebel heißt, dass man das Ende des eigenen Gartens nicht sehen kann. „Müsli Hill“ sagen Altlinke zu dieser Hochburg der englischen Alternativbewegung. Wöchentliche Straßenstände gegen den Krieg gibt es sonst in London überraschend wenige. Aber in Muswell Hill diskutieren Robin Beste, Leiter der Ortsgruppe des „Stop The War Campaign“, und seine Kollegen eifrig über den Krieg: mit Hausfrauen, mit Studenten, mit asiatischen Familien. „Als wir im Herbst anfingen, waren wir vier“, sagt Beste: „Jetzt sind wir hunderte. Jeder ist gegen diesen Krieg.“ Und wie jemand, der einem entfremdeten Freund nachtrauert, fügt er hinzu: „Wir verstehen nicht, was das Blair bringt.“
Die Kriegsgegner Großbritanniens sind New Labours enttäuschte Kinder. Am 1. Mai 1997 hatte Tony Blair seine Partei zum größten Wahlsieg in der Geschichte der britischen Linken geführt. Am 15. Februar 2003 stellten seine Wähler die größte Demonstration in der britischen Geschichte auf die Beine – gegen Blairs Politik gegenüber dem Irak. Ob man nun eine Dreiviertelmillion, eine Million oder das Doppelte zählte: Dies war ein historischer Tag. Und heute, am 12. April, sollen noch mehr Menschen in London auf die Straße gehen. Auf einem Treffen ruft eine Kriegsgegnerin: „Ich war im Februar in Rom, und da demonstrierten zwei Millionen! Lasst uns drei Millionen auf die Straße bringen und zeigen, dass wir die Römer schlagen können!“
Dafür allerdings müsste die Friedensbewegung noch schneller vorankommen als im Irak die britische Armee. Saddam Husseins Regime ist gestürzt? Egal, findet die Muswell Hill Stop The War Campaign in ihrem jüngsten Aufruf zur Großdemonstration am 12. April: „Wir sind auch dann noch gegen diesen Krieg, wenn der unvermeidliche Bush-Blair-Sieg erklärt wird und irakische Mengen gezeigt werden, wie sie das Ende des Regimes von Saddam Hussein feiern, so als sei dies eine Begrüßung der Rekolonisierung des Irak.“ Die britischen Truppen haben überraschend schnell gesiegt? Na und: „Wir demonstrieren gegen die schrecklichen Opfer eines völlig ungerechtfertigten Krieges, der nach kaum drei Wochen hunderte irakische Zivilisten, tausende irakischer Soldaten und dutzende von US- und britischen Soldaten abgeschlachtet hat.“ Jetzt erst recht also, wo man nicht mehr um das Leben der eigenen Soldaten so sehr bangen muss wie bisher: „Wir demonstrieren gegen die virtuelle Erklärung des Dritten Weltkriegs.“
Auf der Mobilisierungsveranstaltung der „Muswell Hill Stop The War Campaign“ sitzt Bernhard Herzberg in der zweiten Reihe. Um ihn herum die anderen Vertreter der alten Generation, ganz vorn, damit sie der Diskussion um das Recht von Schulkindern auf Teilnahme an Friedenskundgebungen besser folgen können. Es wäre nicht nötig, denn die männlichen Redner brüllen ins Mikrofon, als drängele sich vor ihnen eine aufgeputschte Großbetriebsbelegschaft im Kohlerevier.
Wenn Jeremy Corbyn, Veteran der traditionalistischen Linken in der Labour-Parlamentsfraktion, den Namen seines Premierministers und Parteichefs ausspricht, klingt es wie ein undruckbares Schimpfwort. „Ich will, dass dieser Krieg aufhört!“, ruft er zum Höhepunkt seiner Rede, nach eigenem Bekunden etwa die zweihundertste gegen den Krieg. „Heute Nacht!“ Die etwa hundert Zuhörer auf den Plastikstühlen des Gemeinderaums der Baptisten klatschen artig.
Wohl selten haben die braven Bürger von Muswell Hill so gebannt einem alten Demagogen zugehört. Zwei Schulmädchen sitzen auf dem Podium und lauschen aufmerksam, bevor sie sagen, warum sie selbst gegen den Krieg sind: „Das Geld, das für Bomben ausgegeben wird, könnte für Bildung ausgegeben werden und für Gesundheit, damit junge Leute länger leben“, findet die resolute Sinead im breiten proletarischen Essex-Akzent. Die Alten in den vorderen Reihen sind ungerührt. Vivian, mit etwas gehobenerem Tonfall, meint: „Wir gehen zur Schule, um denken zu lernen. Indem wir in London protestieren, zeigen wir, was wir gelernt haben.“
Die kleinen alten Frauen lächeln beglückt. So nette Mädchen. Wie kann Tony Blair, der Bildungsfanatiker, etwas gegen sie haben? Blair, der Weltverbesserer?
Dies sind Blairs Kinder, und sie lehnen sich gegen ihn auf, denn er hat die Welt nicht verbessert. Sie gebrauchen seine Parolen, sie ahmen seine Emphasen nach, und sie kommen zum umgekehrten Schluss über seine Welt. Es ist viel von der Welt die Rede auf dieser Versammlung und ähnlichen – von einer schlechten Welt, voller Konsumerismus und Gleichschaltung. Je mehr Amerika, desto schlechter. „Es geht um amerikanische Weltherrschaft“, meint Lehrergewerkschaftsführer Paul Mackney vor den Kriegsgegnern von Muswell Hill. „Die Amerikaner wollen das 21. Jahrhundert beherrschen so wie die alten Römer.“
Jeremy Corbyn erklärt die Weltpolitik ganz routiniert im Ton einer Zigarettenwarnung der EU-Gesundheitsminister: „Waffen zu verkaufen und Ressourcen zu stehlen, die uns nicht gehören, führt zu Konflikt und Tod.“ Dann spricht er vom eigentlichen Thema: Angst. „Angst, dass die ganze Welt in eine Ära von Gefahr und Dunkelheit gestürzt wird“ stehe hinter den Schülerprotesten, sagt er und meint das als Lob.
Redner aus dem Publikum stimmen ein. „Die Jugend ist die Avantgarde, die uns vor dem Dunkel bewahrt“, beschwört eine Frau und sorgt sich, ein Scheitern der Friedensbewegung werde die Welt um tausend Jahre zurückwerfen, ins „Zeitalter von Aberglaube und Manipulation“. Eine andere mit leicht wildem Blick wittert eine „finstere Verschwörung“ und verteilt Kopien von Dollarscheinen, wo sie auf der Rückseite den jahrhundertealten Griff der Freimaurer nach der Weltherrschaft erklärt.
Gegründet kurz nach den Terroranschlägen des 11. September 2001, ist die „Stop The War Coalition“ wie ein Wirklichkeit gewordener Traum für die extreme Linke Großbritanniens. Endlich einmal hat man die Mehrheit in den Umfragen. Endlich einmal bringt man die Massen auf die Straße. Aber die Reflexe der verfolgten Minderheit legt man so leicht nicht ab. Ein einsames Licht in einem Zeitalter der Finsternis – so sehen sich die Friedenskämpfer, ein wenig wie Christen im alten Rom oder Pazifisten während des Zweiten Weltkriegs. Die Friedenstreffen haben etwas von Erleuchtungsversammlungen einer Erweckungskirche, wo einer nach dem anderen seine Wiedergeburt bekundet.
Ein wenig ist das schon das Eingeständnis des Scheiterns, die Abkehr von der gesellschaftlichen Mehrheit. Sie reden wie eine kleine verschworene Gemeinschaft der Aufrechten. Und irgendwie sind sie das ja auch. Das angeblich lockere Antikriegsbündnis ist eine Kaderorganisation, in der die alte Linke sich an Blair für ihre Vertreibung von den Schaltstellen der Macht innerhalb der Arbeiterbewegung rächt. Geleitet von Andrew Murray, einem Führer der pro-nordkoreanischen „Communist Party of Britain“, ist die Koalition nach eigenem Selbstverständnis eine Volksfront gegen den Imperialismus. Der gemeinsame Hass auf Blair vereint sogar Altstalinisten und Alttrotzkisten.
„Die reden alle, als sei die Mauer nie gefallen“, lästert Margaret Wright, Vertreterin der englischen Grünen im Koordinationskomitee der „Stop The War Coalition“. „Sie wollen die Welt übernehmen und eine Revolution machen, was Blödsinn ist, aber sie haben eben die Energie und die Vision, um zwei Millionen Leute auf die Straße zu kriegen.“ Die Plakate der trotzkistischen „Socialist Workers Party“ mit Aufschriften wie „Stoppt den Krieg“, „Blair raus“, „unterstützt den irakischen Widerstand“ dominieren Antikriegskundgebungen. Ihre Aktivisten debattieren eifrig darüber, ob dies nun eine revolutionäre Situation sei oder nicht, und dass man aufpassen müsse, das Endziel des Sozialismus nicht öffentlich zu erwähnen. Ihre Führer organisieren, so heißt es von Kritikern, Geheimtreffen und Parallelkampagnen. In rhetorischer Vorbereitung auf die Revolution werden „Volksparlamente“ ausgerufen, und nach der Großdemonstration vom Februar gab es eine riesige „Volksversammlung“ (People’s Assembly) in den ehrwürdigen Hallen der methodistischen Central Hall in London, eine Art Mini-Räterepublik mit Eintrittsgeld und manipulierten Rednerlisten. Pazifisten und Grüne sind hoffnungslos im Rückstand gegenüber diesen Parteisoldaten.
Den Schulkindern von Muswell Hill haben sie die Welt offenbar schon erklärt. „Mit Irak haben sie angefangen, und sie werden mit anderen weitermachen“, ist Vivian überzeugt und spricht wie eine geübte Aktivistin, die von Niederlage zu Niederlage fortschreitet: „Dies ist der Beginn unseres Kampfs, und wir sollten weiterkämpfen.“ Die Strategie der „Stop The War“-Aktivisten ist so einfach wie durchsichtig: Man bringt möglichst viele Leute, darunter möglichst viele idealistische Jugendliche, auf die Straße, und wenn das dann trotzdem nichts bringt – was der geschulte Marxist ja längst weiß – kanalisiert man die Enttäuschung in eine revolutionäre Massenbewegung. Noch nie hat das zwar in der Geschichte funktioniert, aber man kann es ja immer wieder neu probieren.
Nur mit dem Frieden hat es nichts zu tun. Aber darum geht es ja nicht. Es geht um den ewigen Kampf gegen den ewigen „Krieg gegen den Terror“, gegen die finstere, böse Welt, die mit dem US-Sieg im Irak noch ein wenig finsterer und böser geworden ist.
Am Ende der Versammlung in Muswell Hill ist Bernhard Herzberg nicht mehr zu sehen. Der alte Mann, der auf der Straße das Diskutieren liebt, ist gegangen. Seine Welt wäre dieses Schattenreich sowieso nicht. Vielleicht hat er in seinem Leben schon zu viel Wirklichkeit gesehen.