Volksentscheid: Antidepressiva an der Pinnwand
In der Hoffnung auf ein erfolgreiches Quorum klammert sich die Initiative für den Erhalt des Tempelhofer Felds an eine Excel-Tabelle. Euphorie versprüht sie nicht.
Da ist er wieder, der knuffige Bär der Volksentscheid-Kampagne, die vor einer Woche so knapp scheiterte. Rund 100 Pappen, die an Berliner Laternenpfählen hingen und mit dem Maskottchen für die Energietisch-Initiative warben, lehnen nun in der Ecke eines Ladenlokals im Neuköllner Schillerkiez, zwei Blöcke östlich des ehemaligen Flughafens.
Es ist das Aktionsbüro des Bündnisses „100 % Tempelhofer Feld“, das gerade wie wild Unterschriften sammelt. Bis 13. Januar muss die Gruppe knapp 173.000 zusammenbekommen, sonst wird nichts aus dem Volksentscheid, der klären soll, was aus dem ehemaligen Flughafengelände wird. Die Initiatoren wollen die Bebauung des Feldes verhindern, „Für den 100%igen Erhalt der einzigartigen Vielfalt des Tempelhofer Feldes“.
Nachdem der Energietisch Anfang November 0,9 Prozent zu wenige Jastimmen bekam, gilt für die Tempelhofer umso mehr: Nach dem Volksentscheid ist vor dem Volksentscheid. „Als ich die Zahlen hörte, war ich so deprimiert, dass ich erst mal eine Stunde Pause machen musste“, sagt Margarete Heitmüller, die die Fäden der Unterschriftensammlung zusammenhält und so etwas wie die Kampagnenleiterin ist. Es gilt als ausgemacht, dass die Energietisch-Kampagne auf den letzten Metern danebenging, weil der Senat verhindert hatte, dass der Abstimmungstermin auf den Tag der Bundestagswahl gelegt wurde.
Mit der Europawahl. Basta
„Miese Tricks!“, „Grobes Foul!“, kommentierte die Opposition fraktionsübergreifend – und schwor, alles daranzusetzen, dass Ähnliches beim anstehenden Volksentscheid zum Tempelhofer Feld nicht passieren wird. Man sei längst dabei, Gesetzesänderungen einzubringen, so die Opposition, und wenn sich schon das Quorum nicht senken lasse, dann müsse wenigstens die Sache mit dem Termin klappen: zeitgleich mit der Europawahl Ende Mai. Basta.
Im Büro der Tempelhof-Initiative sitzt Heitmüller mit den Aktivisten Julius Dahms und Michael Schneidewind um den Tisch und versucht, den Status quo zu erklären. Mit Abgeordneten der Opposition habe man gerade keinen Kontakt, man wolle sich aber mal treffen, sagen sie. In der Woche nach dem Scheitern der Energietischler dreht sich bei ihnen alles um die Unterschriften. Und ums leidige Thema Geld. „Wir sind vollkommen mittellos“, sagt Heitmüller. Darum auch die ausrangierten Volksentscheid-Pappen: Man wolle die Rückseiten beschriften und damit auf dem Tempelhofer Feld werben. Gerade habe netterweise der BUND den Druck von 60.000 Unterschriftenlisten gesponsert, ansonsten frage man Freunde, wer mal eben was spenden könne. Das Ladenlokal hat Heitmüller auf eigene Kosten gemietet, damit es wenigstens so etwas wie eine Zentrale gibt.
Dort treffen sich jeden Freitagabend ein, zwei Handvoll Helfer und falten Unterschriftenlisten, füllen Umschläge; ab und an holt jemand einen frischen Schwung Listen und Klemmbretter, aus dem Nebenraum hört man „Plack, plack, plack“, es wird gestempelt.
Sie alle können sich ihren Alltag ohne das Feld nicht mehr vorstellen. Heitmüller geht jeden Tag mit ihrem Hund über die Landebahn, Schneidewind einfach so, und Dahms ist einer von den Kitesurfern. Zurzeit sind sie täglich dort, um den Bauzaun zu knipsen, der da steht, die Fotos posten sie bei Facebook: Der Senat lässt ein Wasserbecken bauen. Dass Häuser am Rand entstehen, fürchten die Aktivisten, sei nur eine Frage der Zeit. Sie klingen desillusioniert. Auch wegen der Sache mit dem Europawahltag: „Zu 70 Prozent wird es nicht klappen, dass wir den gleichen Termin bekommen“, meint Schneidewind.
Am Freitag feiern die Tempelhofer Halbzeit mit einer Party für die Helfer. Zwei Monate bleiben. Heitmüller pflückt eine Liste von der Pinnwand: eine Excel-Tabelle mit den Unterschriftenzahlen aller Berliner Volksbegehren. „Die Kampagne vom Energietisch hatte nach zwei Monaten nur 48.700“, sagt sie, „wir haben 51.000.“
Die Kampagne des Energietischs haben Leute geführt, die hauptberuflich politische Strategien aushecken, bei Nichtregierungsorganisationen wie „Mehr Demokratie“ oder BUND. Julius Dahms ist Luft- und Raumfahrttechniker an der Technischen Universität, Michael Schneidewind freiberuflicher Stadtentwickler, Heitmüller Regieassistentin beim Film.
Die Sache mit der Europawahl, dem Wasserbecken, alles scheint für sie erträglich dank der Excel-Tabelle. Heitmüller deutet noch mal auf die Zahlen der gescheiterten Energietisch-Kampagne. Sie sagt: „Die Liste ist unser Antidepressivum.“
In einer früheren Version dieses Artikels war fälschlicherweise von 73.000 Unterschriften die Rede, die die Initiative „100 % Tempelhofer Feld“ sammeln muss; tatsächlich sind es 173.000.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Prozess zu Polizeigewalt in Dortmund
Freisprüche für die Polizei im Fall Mouhamed Dramé
Proteste in Georgien
Wir brauchen keine Ratschläge aus dem Westen
Fake News liegen im Trend
Lügen mutiert zur Machtstrategie Nummer eins
Ex-Wirtschaftsweiser Peter Bofinger
„Das deutsche Geschäftsmodell funktioniert nicht mehr“
MLPD droht Nichtzulassung zur Wahl
Scheitert der „echte Sozialismus“ am Parteiengesetz?
Syrien nach Assad
„Feiert mit uns!“