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Volksdeputiertenkongreß will Taten sehen

■ Versorgung mit Konsumgütern soll sichergestellt werden / Neue Verfassung gefordert / Größere Rechte für ethnische Minderheiten / Ryschkow hat Schwierigkeiten mit der Regierungsbildung / Weitere Unruhen in Kasachstan / Grüne Organisation in Estland anerkannt

Moskau (dpa) - Der Kongreß der Volksdeputierten hat den Obersten Sowjet und die sowjetische Regierung verpflichtet, alle Maßnahmen zu ergreifen, um in „kürzester Zeit“ die Versorgung der Bevölkerung mit Konsumgütern sicherzustellen

-so die Resolution des Kongresses vom Sonntag. Der Kongreß sprach sich dafür aus, am Weg der Perestroika festzuhalten. Dazu sei ein scharfer Wandel des sozialökonomischen Programms zu den Bedürfnissen der Menschen hin notwendig.

Die Regierung wird aufgefordert, die Investitionspolitik grundsätzlich zu ändern und Mittel für soziale Aufgaben zu erübrigen. Bis Ende 1989 soll sie ein Programm zur Umstellung der Verteidigungsindustrie auf Befriedigung der Konsumbedürfnisse der Bevölkerung vorlegen. Die Verteidigungsausgaben sollen auf ein „ausreichendes Niveau“ gekürzt werden.

Der Kongreß fordert die Ausarbeitung einer neuen Verfassung, die die derzeitige Verfassung aus dem Jahr 1977 ersetzen soll. Erstmals wird betont, daß die Kommunistische Partei „wie alle öffentlichen Organisationen“ Verfassung und Gesetz befolgen müsse. Der Kongreß spricht sich jedoch nicht für die Abschaffung des Artikels 6 aus, der die KPdSU zur einzigen politischen Kraft des Landes bestimmt. In den Vorschlägen für die Verfassungszusätze werden den ethnischen Minderheiten einige Zugeständnisse gemacht. Der Volksdeputiertenkongreß verlangt insbesondere die Wiederherstellung der Rechte der Volksgruppen, die 1944 unter Stalin umgesiedelt wurden. Es wird jedoch kein Zeitrahmen genannt.

Nach der Ablehnung mehrerer vom sowjetischen Regierungschef Nikolai Ryschkow vorgschlagener Kandidaten für Ministerämter durch die zuständigen Parlamentsausschüsse wird mit Spannung die am Montag beginnende Tagung des Obersten Sowjet erwartet. Zu den in den Ausschüssen durchgefallenen Anwärtern auf hohe Regierungsämter gehören insbesondere Wladimir Gribow, der die Zentralbank (Gosbank) leiten soll, und Gennadi Bogomjakow, der für den Posten des Erdölministers vorgesehen ist. Zudem fanden sich für Kulturminister Wassili Sacharow und Sportminister Marat Gramow in den Ausschüssen keine Mehrheiten für eine weitere Amtszeit. Andere Kandidaten sahen sich nach Berichten der sowjetischen Medien stundenlang bohrenden Fragen der Abgeordneten nach ihrer Befähigung, ihrer bisherigen Erfolgsbilanz und ihren künftigen Vorhaben ausgesetzt. Angesichts dieses Widerstands hatte Ryschkow schon am Freitag angekündigt, er werde weiter um alle 57 Kandidaten kämpfen. Den „endgültigen Beschluß“ fälle das Plenum des Sowjet.

Die reformorientierte sowjetische Presse, allen voran die „Moskau News“, bezeichnete die am 10. Juni von Ryschkow vorgestellte Regierungsmannschaft als „alten Wein in neuen Schläuchen“.

Kasachstan: weiter Unruhen

Die Unruhen, die vor einer Woche in der westkasachischen Industriestadt Nowy Usen entflammten, drohen auch auf andere Gebiete der mittelasiatischen Republik überzugreifen. Wegen der Zusammenstöße zwischen Kasachen und Kaukasiern ist am Wochenende der Parteichef von Nowy Usen abgesetzt worden. Der Presse zufolge hat sich die Lage in der Stadt und ihrer Umgebung nicht entspannt. Trotz Ausgangssperre griff eine Gruppe von 150 Jugendlichen die Milizstation eines Dorfes an. Aus zwei Dörfern mußten weitere Kaukasier evakuiert werden.

Estland: Grüne anerkannt

In der Sowjetrepublik Estland sind die „Grünen“ und eine „Agrarunion“ offiziell als Organisationen zugelassen worden. Nach Angaben der Tageszeitung „Sowjetestland“ billigte der Oberste Sowjet Estlands die Statuten der Gruppen.

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