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Volkan AğarPostproletHerzlichen Dank für fünf Jahre Postprolet

Abschiede fallen Post­proleten nicht schwer. Sie fühlen sich unmöglich an. Nur wegen eines Abschieds sind Postproleten zu Postproleten geworden. Sie haben früh alles verlassen, was ein Zuhause ausmacht: Familie, den Ort der Kindheit und Jugend, ein Milieu, eine ganze Klasse. Arbeiterkinder, die weggegangen sind, wissen um den Schmerz des Abschiedes.

Gerade weil sie sich nicht verabschieden konnten. Dass sie gegangen sind, haben sie erst gemerkt, als sie schon lange weg waren.

Dabei ist ein Abschied mehr als ein Handschlag, eine Umarmung oder die Tränen, die jemand vergießt.

Ein Abschied ermöglicht es, zu gehen und trotzdem zu bleiben. Ein Abschied, der vermieden wird, verfolgt einen ewig.

Wer sich dagegen richtig verabschiedet, sagt: Ich gehe und ich bin traurig darüber, weil du mir wichtig bist.

Ich gehe, aber unsere Verbindung ist stark genug, um diese Trennung zu überdauern.

Die Trauer, die jemand über die Trennung zum Ausdruck bringt, ist die Garantie dafür.

Das Gehen ohne Abschied ist Teil meiner Familiengeschichte.

Meine Eltern sind gegangen, ohne sich zu verabschieden. Weil sie gedacht haben, dass sie irgendwann zurückkehren.

Heute leben sie immer noch in Deutschland. Ihr Abschied dauert heute noch an. Weil sie und diejenigen, die sie zurückgelassen haben, den richtigen Zeitpunkt des Abschieds verpasst haben, weint meine älteste Tante heute schon Tage vor dem eigentlichen Abschied, Tage bevor die Türkei-Urlauber nach Deutschland zurückkehren.

Sie weint nicht so, als würden die Türkei-Urlauber im nächsten Sommer wieder kommen. Sie weint, als wäre jemand gestorben. Vielleicht bin auch ich deswegen oft gegangen, ohne mich zu verabschieden.

Nach dem Abitur bin ich aus meiner Heimatstadt geflüchtet, als wäre dort ein Krieg ausgebrochen. Von meiner ersten Freundin habe ich mich im Auslandsjahr getrennt, indem ich ihre Briefe einfach nicht mehr beantwortet habe.

Als ich im Studium den ersten richtigen Job in einer anderen Stadt angeboten bekommen habe, bin ich aus meiner WG ausgezogen, ohne mir Zeit für einen Abschied zu nehmen. Ich habe einfach nicht verstanden, warum meine Mitbewohner sauer auf mich waren. Sie hätten diese Gelegenheit doch auch genutzt!

Manche kennen das vielleicht von Partys: Die Nacht war lang, es gab witzige Gespräche und viel Spaß, es wurde schön getanzt – doch sich jetzt von jeder Person einzeln zu verabschieden, das würde ewig dauern.

Deshalb geht man einfach, ohne Tschüss zu sagen. Einen Polnischen machen, nennt man das.

Einen Postproleten machen, wäre viel passender.

Foto: privat

Heute verstehe ich meine Mitbewohner. Und ich wünschte, ich hätte diesen einen letzten Brief geschrieben.

Ich weiß heute: Es muss einmal wehtun, damit es nicht ewig schmerzt.

Diesmal will ich es besser machen. Deshalb verabschiede ich mich nicht erst mit meiner letzten Kolumne, sondern schon in dieser vorletzten.

Damit ich den richtigen Zeitpunkt des Abschieds auch wirklich nicht verpasse.

Danke für fünf Jahre Post­prolet! Ich gehe und ich bleibe trotzdem.

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