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Archiv-Artikel

Vitales Meer

Als der nacheilende Gehorsam sich fortsetzte: Jochen Missfeldts seltsamer Roman „Steilküste“

Am 10. Mai 1945 wurden zwei Soldaten wegen Fahnenflucht hingerichtet

VON DIRK KNIPPHALS

Dies ist ein seltsamer Roman –ein interessant seltsamer Roman. Er erzählt eine Begebenheit aus den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs; aber von einem platten Realismus ist er weit entfernt. Immer wieder stößt man auf Sätze, in denen Jochen Missfeldt den Wolken eine Stimme verleiht, den Vögeln – und dem Meer. Es sind emphatische Sätze, beim Lesen schreckt man manchmal unmittelbar zurück, weil man sich an ihren Willen zu Lyrismen erst gewöhnen muss, auch an ihre Schroffheit: „Das Meer lebt. Das Meer hat einen guten Blutdruck von den vielen Schiffen und Toten, die auf seinem Grund liegen. Das Meer wird nicht müde zu erzählen und hält beim Erinnern die eigene Gesundheit auf Trab.“

Jochen Missfeldt ist ein pathetischer Autor. Keiner, der einen zum Lesen überreden will. Und man denkt, dass es schon seine Richtigkeit hat, dass er am nördlichen Ende Schleswig-Holsteins wohnt, am Rande also. Im Zentrum des Literaturbetriebs kann man ihn sich nicht vorstellen. Nachdem man zunächst angemessen gefremdelt hat, kann man in Missfeldt aber einen hinreißenden Erzähler entdecken. Vor allem einen, der die Landschaft als Gegenstand einer Erzählung unbedingt ernst nimmt.

Hoch oben im Norden spielt dieser Roman: dort, wo die Ostsee auf eine Steilküste trifft, wo in der Geltinger Bucht Dutzende U-Boot-Wracks liegen, schnell noch versenkt, bevor sie an die Alliierten gehen konnten, und wo Großadmiral Dönitz ein paar Wochen die Geschicke „Restgroßdeutschlands“ verwaltete, das am Ende noch aus ein paar Straßenzügen um die Marineschule Flensburg-Mürwik bestand.

Jochen Missfeldt versteht sich bei alledem auf die Wallungswerte von lauen Brisen am Meer, von Knicks und Vogelflügen, Grütze und Wellenbewegungen. Mit ein paar Strichen kann seine Prosa Stimmungen evozieren, aus ein paar Metaphern bastelt er eine beglaubigte Seelenlandschaft. Dass sich dieser Autor auch aufs Militärische versteht, weiß man seit dem Roman „Gespiegelter Himmel“, mit dem er vor drei Jahren seinen Status vom Geheimtipp zum arrivierten Schriftsteller gewechselt hat. Missfeldt, 1941 in Satrup bei Schleswig geboren, war Starfighter-Pilot bei der Bundesluftwaffe und hat mit „Gespiegelter Himmel“ einen großartigen Starfighter-Pilotenroman geschrieben. Jetzt, mit „Steilküste“, betreibt er etwas, was man als Beitrag zur Archäologie des Militärischen in Deutschland beschreiben könnte. Eine solche Archäologie ist wohl notwendig, denn so ohne weiteres kommt man an die damaligen Bewusstseinslagen nicht mehr ran – und die reale Begebenheit, um die sich das Buch dreht, hat sogar etwas schlicht Unbegreifliches: Noch am 10. Mai 1945, zwei Tage nach der bedingungslosen Kapitulation der deutschen Wehrmacht also, wurden zwei Marinesoldaten wegen Fahnenflucht hingerichtet, nach einer offiziellen Kriegsgerichtssitzung und von einem ebenso offiziellen Hinrichtungskommando (eine Nachbemerkung informiert uns, dass es in Wahrheit drei Marinesoldaten gewesen sind – ihnen ist das Buch auch gewidmet –, der Dramaturgie wegen verringert Missfeldt die Zahl jedoch auf zwei).

Der Krieg war aus, aber der nacheilende Gehorsam ging erst mal weiter. Neben seiner eigenwilligen, fordernden Sprache ist das die zweite große Stärke dieses Romans: Missfeldt betrachtet diesen schrecklich ungerechten Vorgang von allen Seiten, leuchtet ihn in allen Facetten aus, sodass man ihn am Ende zwar immer noch nicht wirklich verstehen, aber zumindest nachvollziehen kann. Großer Höhepunkt des Buchs ist die Nacht, in der der deutsche Kommodore der Schnellboote, zuständiger Gerichtsherr und übrigens gläubiger Christ, allein in seiner Kajüte und mit seinem Gewissen überlegt, ob er das Todesurteil unterzeichnen soll oder nicht. Missfeldt trotzt diesen sich dehnenden Momenten dramatische Qualitäten ab: „Die Zeit verging, die Frage nicht.“ Die Durchführung der Exekution interessiert ihn dagegen nicht so wie Motivation, Vor- und Nachgeschichte; die Exekution selbst handelt er als kleines, dreckiges Ritual ab. Und das Meer hatte wieder eine Geschichte mehr zu erzählen.

Jochen Missfeldt: „Steilküste“. Rowohlt Verlag, Reinbek 2005, 281 Seiten, 19,90 €